78Übungsfall 19: „aberratio-Fall“
A. schießt gerne auf streunende Hunde. Als er am Sonntagmorgen im öffentlichen Stadtpark einen Hund ohne Leine entdeckt, gibt er einen gezielten Schuss auf den Hund ab. In diesem Moment biegt der Besitzer des Hundes, der völlig ahnungslose Bürger B. um die Ecke. A.’s Schuss geht daneben und trifft den B. tödlich, während sein Hund unverletzt entkommt.
Im „aberratio-Fall“ wollte A. einen Hund töten. Strafrechtlich gesprochen ist der Hund eine Sache. Wenn man davon ausgeht, dass der Hund jemand gehört, handelt es sich um eine fremde Sache. Mit der Schussabgabe hat A. somit vorsätzlich zu einer Sachbeschädigung „unmittelbar angesetzt“und sich im Ergebnis der versuchten Sachbeschädigung (§§ 303, 22)strafbar gemacht. Bei der tödlichen Verletzung des B. dürften alle Voraussetzungen der Fahrlässigkeiterfüllt sein: Wer in einem öffentlich zugänglichen Stadtpark an einem Sonntagmorgen Schüsse abgibt, verletztdie erforderliche Sorgfaltund muss mit tödlich ausgehenden Unfällen rechnen (Vorhersehbarkeit). Dann wäre A. wegen fahrlässiger Tötung (§ 222)strafbar. Damit zeigt sich deutlich die Grundstruktur der aberratio ictus : Versuch(sofern strafbar) am nicht getroffenen Zielobjekt und Fahrlässigkeit(wenn strafbar) am versehentlich getroffenen Zweitobjekt.
Anders liegen allerdings die Fälle, in denen der Täter das Zweitobjekt nicht versehentlich getroffen hat, sondern mit seiner Verletzung als möglich gerechnet hat und sie in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz bzgl. des Zweitobjekts). Hier liegt Versuch am nicht getroffenen Zielobjekt und vollendete Vorsatztat am getroffenen Zweitobjekt vor.
Beispiel:
Auftragskiller K. schießt aus größerer Entfernung auf sein Opfer O. und trifft dessen danebenstehenden „Bodyguard“ tödlich. K. hatte mit dieser Möglichkeit gerechnet und sie in Kauf genommen.
In diesem Falle hatte K. vorsätzlich getötet, weil er die Tötung des Bodyguards „bedingt vorsätzlich“vorgenommen hat.
IV.Der Irrtum über den Kausalverlauf
79Der Vorsatz muss sich bekanntlich auf einen objektiven Tatbestand beziehen. Zu diesem gehört auch die Kausalität, also der Ursachenzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg. Insofern muss der Vorsatz auch den Kausalverlaufin seinen wesentlichen Umrissen umfassen. Hier stellt sich gelegentlich die Frage, wann ein Irrtum über den Kausalverlaufso wesentlich ist, dass ein Tatbestandsirrtum vorliegt und damit der Vorsatz entfällt (§ 16 I Satz 1). Die Rspr. und h. M. verlagern im Wege der Äquivalenztheoriedie Probleme bei atypischen, irregulären Kausalverläufen in den subjektiven Tatbestand, greifen dabei aber auf Kriterien der (objektiven) Zurechenbarkeit wie z. B. „allgemeine Lebenserfahrung“ und „generelle Vorhersehbarkeit“ zurück. Danach sind Abweichungen zwischen dem tatsächlichen und dem vorgestellten Kausalgeschehen (Irrtum über den Kausalverlauf) dann für den Vorsatz irrelevant, weil „unwesentlich“, wenn sie sich nach der allgemeinen Lebenserfahrungin den Grenzen des „Voraussehbaren“halten.
Dazu drei Beispiele zur „unwesentlichen“Abweichung im Kausalverlauf:
80Beispiel: „Beilhiebe-Fall“ 37
Der Angeklagte A. hatte durch mehrere Beilhiebe auf den Kopf seines Opfers O. versucht, dessen Schädel zu zertrümmern, um ihn zu töten. O. überlebte zunächst den brutalen Anschlag, verstarb dann aber einige Tage später infolge einer Wundinfektion in der Klinik.
81Beispiel: „Brückenpfeiler-Fall“ 38
Täter T. hatte ein kleines Mädchen M. von einer Brücke gestoßen, um es zu töten. Nach T.’s Vorstellung sollte M. im Fluss ertrinken. M. verstarb aber bereits bei einem Aufprall auf einem Brückenpfeiler.
82Beispiel: „Jauchegruben-Fall“ 39
Die später angeklagte Frau A. wollte Frau B. töten, indem sie ihr zwei Hände voll Sand in den Mund stopfte. Als Frau B. schließlich regungslos dalag, wurde sie von A. für tot gehalten und in eine Jauchegrube geworfen, wodurch erst der Tod von B. unmittelbar bewirkt wurde.
Bezugspunkt des Tatbestandsvorsatzes ist der objektive Tatbestand. Zu diesem gehört auch die Kausalität, der Ursachenzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg. Deshalb muss der Vorsatz auch den Kausalverlaufin seinen wesentlichenUmrissen umfassen. Abweichungenzwischen dem vorgestellten und dem tatsächlichen Kausalverlauf sind nach h. M. dann „unwesentlich“, wenn sie sich noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. 40
Im Beilhiebe-Fall, im Brückenpfeiler-Fall und im Jauchegruben-Fall ist die Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf jeweils unwesentlichgewesen, weil die Täter sich in allen drei Fällen den Tod des Opfers subjektiv vorgenommen und im Ergebnis auch realisiert hatten. Sie wollten ihr Opfer töten und sie haben ihr Opfer getötet. Für die Taten insgesamt war damit die Abweichung jeweils irrelevant. Oder wie es der BGH im Jauchegrubenfall ausgedrückt hat: „Die Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Ursachenablauf ist nur gering und rechtlich ohne Bedeutung.“
V.Zwei Fälle zur Vertiefung und zur Lernkontrolle:
83Übungsfall 20: „Ententeich-Fall“ 41
Fischereibesitzer F. hatte zur Aufzucht von Nutzfischen etliche Fischteiche angelegt. Zur Fütterungszeit erschienen ganze Scharen von Wildenten, die das ausgestreute Fischfutter wegfraßen. Deshalb versuchte F., die gefräßigen Vögel durch Gewehrschüsse zu vertreiben. Am tragischen Tag irrte ein Schuss als Querschläger ab und traf einen unmittelbar in der Nähe arbeitenden Baggerfahrer B., der gerade einen neuen Fischteich aushob, tödlich.
Im „Ententeich-Fall“ zeigt sich die typische Strukturder aberratio ictus: Versuch beim Zielobjekt und Fahrlässigkeit beim getroffenen Objekt. Was die Wildenten betrifft, käme eventuell die versuchte Jagdwildereiin Frage, wobei allerdings nach § 292 der Versuch nicht strafbar ist. Hinsichtlich des getöteten Baggerführers B. kommt, abhängig vom konkreten Ermittlungsergebnis, die fahrlässige Tötungin Betracht (§ 222). Tödliche Unfälle liegen dabei sicher nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung (Vorhersehbarkeit). Wer einen Baggerfahrer beauftragt, einen neuen Fischteich auszuheben, darf in dessen Reichweite keine Gewehrschüsse abfeuern (Sorgfaltspflichtverletzung).
84Übungsfall 21: „Greg Lemond-Fall“ 42
Der Amerikaner Greg Lemond war in den 1980er Jahren ein berühmter und erfolgreicher Radrennfahrer. Er war mehrfach Weltmeister in seiner Disziplin und mehrmaliger Tour-de-France-Sieger. Ihm war folgendes widerfahren: Auszug aus der Süddeutschen Zeitung: Greg Lemond angeschossen. Sacramento (dpa): Der 25-jährige Amerikaner Greg Lemond ist bei einer Hasenjagd in der Sierra Nevada angeschossen und schwer verletzt worden. Der Weltmeister von 1983 und Tour-de-France-Sieger des vergangenen Jahres, fällt damit für die kommenden großen Rennen in den nächsten Monaten aus. Greg Lemond wurde auf der familieneigenen Ranch seines Onkels Louis Barber von seinem Schwager Patrick Blades angeschossen, der den in einem Gebüsch stehenden Lemond mit einem Hasen verwechselte. Rund 30 Kugeln der Schrotladung trafen Lemond, der zu seinem Unglück eine Tarnjacke trug und offenbar schwer zu erkennen war, von der Hüfte abwärts in den Körper. Der bewusstlos zusammengebrochene Lemond wurde mit einem Rettungshubschrauber in das Krankenhaus von Sacramento gebracht und dort einer zweistündigen Operation unterzogen. Der unglückliche Schütze brach nach dem Zwischenfall mit einem hysterischen Anfall zusammen und wurde ebenfalls in das Krankenhaus gebracht. Die Schreckensnachricht von dem Unfall hatte auch Folgen für Greg Lemonds Frau. Kathy Lemond, die ihr zweites Kind in einem Monat erwartet, musste vorzeitig ins Hospital eingeliefert werden.
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