Und die hatten richtig was zu tun. Erst die Leiche am Rainchen. Und jetzt auch noch der versuchte Mord in der Limburgstraße. Das war mehr, als man in dem eher verbrechensarmen Wittgenstein seit Jahrzehnten erlebt hatte. Vorsichtshalber hatte Hauptkommissar Klaiser in Absprache mit Dienststellenleiter Bernd Dickel schon mal die Kollegen in Siegen um Mithilfe gebeten. Denn die Aufgaben, die jetzt auf sie zukommen würden, überschritten ihre personellen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Selbst wenn sie sich die Fälle teilten, was im Übrigen bereits geschehen war.
Während er an dieser ausgesprochen seltsamen Sache mit dem Toten am „Wittgensteiner Hof“ bleiben wollte, übernahm Kriminalkommissarin Corinna Lauber den versuchten Mord am Truck. Und jeder von ihnen hatte lediglich einen Kollegen als Unterstützung an der Hand. Corinna konnte auf die dauerhafte Hilfe von Polizeiobermeister Pattrick Born zählen. Und Klaiser hatte eigentlich auf Jürgen Winter gebaut, der ihm schon in der jüngeren Vergangenheit immer wieder mal mit hervorragender Arbeit zur Seite gestanden hatte. Doch der war nach seinem Sturz auf dem Lastzug zur Untersuchung und Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Wie lange er ausfallen würde, dazu war keine Prognose zu bekommen.
Also holte er sich Obermeister Sven Lukas als Teamkollegen. Der war zwar ein unglaublicher Computerfreak und daher eher für IT-Ermittlungen in Wirtschaftskriminalfällen geeignet, aber Klaiser wusste, dass dieser Mann sich in komplizierte Fälle richtiggehend reinbeißen konnte. Recherchieren bis der Arzt kommt. Genau das, was jetzt gefragt war.
Längst hatten sie alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen der Schutzpolizei auf den Schlossberg geschickt, um Befragungen bei den Anwohnern zu machen. Hatte jemand etwas Verdächtiges gesehen, gehört? Und, wenn ja, was und wann? Wem waren Fahrzeuge und/oder Leute aufgefallen, die zwischen „Wittgensteiner Hof“ und Café etwas abgeladen hatten, oder zumindest abgeladen haben könnten; eventuell eine Leiche.
Wadim Plosicz schnappte noch immer heftig nach Luft. Die Flucht bis zu dieser Mauer am Hilgenacker hatte erstaunlich viel Kraft gekostet. Überraschend viel für den Mann, der sich eigentlich sportlich fit wähnte. ‚Wahrscheinlich machen dich die K.-o.-Tropfen so fertig’, dachte er, während er nach wie vor den spielenden Kindern gegenüber zuschaute.
Plötzlich war am Himmel ein Hubschrauber zu hören. Erst nur vage. Dann schien er zügig immer näher zu kommen. Und dort, von wo aus er geflohen war, startete ein Fahrzeug mit Martinshorn. Neugierig versuchte der Flüchtende zu verstehen, was da abging. Aber er traute sich nicht einmal, um die Hausecke hinter seinem Rücken zu schauen.
Der Hubschrauberpilot schien auf einem Platz ganz in der Nähe landen zu wollen. Vadim kannte das verräterische Knattern der Rotorblätter, wenn sie vom Piloten verstellt werden, um Höhe zu verlieren. Immer näher kam er und wurde immer lauter. Und dann war der Eurocopter zu seinem großen Erschrecken auf einmal direkt über ihm und zog eine Schleife. Deutlich konnte er von unten „ADAC Luftrettung“ an der knallgelben Maschine lesen. Dann war sie schon wieder weg. Hinter den Hausdächern verschwunden.
Die Kinder von gegenüber, die die Erscheinung am Himmel genau so hatte zusammenfahren lassen wie Plosicz, rannten jetzt quer über die Straße in Richtung des Landeplatzes. Deutlich hörte man, wie der Heli jetzt die letzten Meter herunterkam und dann aufsetzte. Blütenblätter, Staub und Papierfetzen flogen durch die Luft. Er schien vor einem Getränkemarkt hinten um die Ecke gelandet zu sein. Dann verlor sich das Schwirren der Rotorblätter. Nur noch Turbinengeräusche, die immer weiter nachließen, bis nur noch der normale Stadtlärm zu hören war.
Frank Drescher stieß einen leichten Fluch aus, als er die Polizeistreife in Bad Laasphe am Straßenrand sah und erkannte, dass er anhalten sollte. Die rote Kelle am hoch gestreckten rechten Arm des Polizisten und die ausgestreckte Linke in Richtung Bordstein waren unmissverständlich. ‚Was ist denn jetzt schon wieder los? Haben mich die Armleuchter etwa am Forsthaus Bracht geblitzt?’ Er hatte es etwas laufen lassen auf der recht verkehrsarmen Strecke. Und seit die Fahrbahn vor ein paar Jahren nach einer halben Ewigkeit des Dahingammelns endlich saniert worden war, konnte man hier auch mit dem Lastzug gefahrlos etwas zügiger fahren.
„Guten Tag, allgemeine Verkehrskontrolle. Bitte Ihren Führerschein, Fahrzeugschein und die Ladepapiere.“ Drescher hatte das Seitenfenster heruntergefahren, herausgeschaut und zurückgegrüßt. Der Beamte, der mit Blick zu ihm hinauf die ganze Litanei stereotyp heruntergeleiert hatte, machte keinen sonderlich freundlichen Eindruck. Sein Kollege, der drei Meter weiter vorne stand, im Übrigen auch nicht. Mit der rechten Hand am Pistolenholster, sicherte der die Kontrollaktion des Kollegen mit langem Gesicht ab. ‚Arme Bullen’, dachte Drescher, während er die Papiere nach draußen reichte, ‚Euch macht der Job offensichtlich keinen Spaß’. Ihm schwante Übles. Denn mit griesgrämigen Polizeibeamten hatte er in der Vergangenheit immer wieder mal Probleme gehabt.
Als der eine mitsamt den Papieren zum Streifenwagen gegangen war, rückte der andere etwas näher an den Truck heran. Frank Drescher wollte aussteigen. Aber der Polizist erhob die Hand und rief: „Bleiben Sie bitte sitzen.“
„Oh wei, was wird das denn?“, entfuhr es dem Trucker. „Was habe ich denn angestellt? War ich zu schnell – oder was?“
„Warten Sie´s ab“, kam die lapidare Antwort aus dem langen Gesicht.
„Na, das kann ja heiter werden“, bemerkte Drescher und fügte in Gedanken noch ‚Du bist vielleicht ein Blödmann’ an, während er sein Radio ausschaltete, um so vielleicht etwas von dem Funkverkehr aus dem Polizeiwagen mitzubekommen. Aber Fehlanzeige.
Sein Gegenüber, mit der Hand auf der „Wumme“, blieb weiter ungerührt und ließ ihn nicht aus den Augen. Das konnte gar kein Spaß sein, so bei dieser Hitze auf der Straße zu stehen und Brummifahrer in Schach zu halten, dachte sich Drescher. Viel mehr aber marterte ihn der Gedanke, welcher Untat er jetzt bezichtigt werden würde. Überladen hatte er auf gar keinen Fall, der Zug war gerade erst ohne Mängel durch den TÜV, die Bereifung einwandfrei. Und wenn er tatsächlich geblitzt worden wäre, hätte er das doch sehen müssen. Er wusste doch, wo sie die Radarfalle immer aufstellten. „Scheiße Mann, Scheiße“, fluchte er leise vor sich hin. Doch jede weitere Gewissenserforschung brachte ihn keinen Schritt weiter. Er konnte sich einfach nicht erklären, was die Polizei von ihm wollte.
Bis ihm plötzlich klar wurde, dass das hier mit Stoppen nach einer Geschwindigkeitskontrolle nichts zu tun haben konnte. Da waren sie in der Regel nämlich mindestens zu viert und mit zwei Fahrzeugen. Und überhaupt, die anderen Autos, die das Laasphetal durch die Wasserstraße herunterkamen, durften unbehelligt weiterfahren. Nein, da war was anderes im Busch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Polizist Nummer eins wieder zurück, reichte ihm seine Papiere hoch und fragte ihn: „Kennen Sie einen Mann namens Kamil Czoch?“
Frank Drescher überlegte einen Augenblick – ziemlich angestrengt sogar. Denn er war ja nun häufig in Polen. Und der Name hörte sich schon ziemlich polnisch an. Aber an gerade diesen konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. „Nein, kenne ich nicht.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, ganz sicher!“
„Seltsam, Sie haben heute Nachmittag noch mit ihm geredet“, ereiferte sich der Bulle und schaute Drescher tief in die Augen.
„Wo?“, wollte der Fernfahrer wissen.
„Das müssten Sie doch am besten wissen.“
„Verdammt noch mal, jetzt wird mir das Ganze hier zu blöd. Ich weiß es nicht . Und wenn Sie behaupten, ich hätte es doch getan, dann sagen Sie mir …“ Drescher unterbrach sich. „Oh, Kacke. War das etwa der durchgeknallte Typ, der vor der Pommesbude mit dem Messer auf mich los ist?“
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