Erster Kompromiss: Reduktion auf den Zweck
Die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure führt mehrere Leistungsphasen auf, denen sich der Architekt bei einem Bauvorhaben widmen kann. In der Praxis zeigt sich oft eine Zweiteilung dergestalt, dass sich einige Architekten auf den Entwurfsprozess konzentrieren. Andere Architekten sind Spezialisten in der Ausführungsplanung. Die erstgenannten legen Wert auf kreatives Entwerfen, die zweitgenannten auf eine effiziente und kostengünstige Umsetzung.88
Nachhaltigkeit im Sinne von dauerhaft minimierten Kosten der Bauunterhaltung hat hier keinen Platz! Die erste Spezialistengruppe kommt oft mit einem Architektenaufmaß aus, die zweite glaubt oftmals, damit auszukommen. Die Gefahr für den Bauherrn: Erst während der Ausführungsphase stellt sich heraus, inwieweit das Architektenaufmaß den Belastungen des Bauens im Bestand standhält. Die entstehenden Mehrkosten trägt der Bauherr. Beauftragt die zweite Gruppe zusätzlich ein exaktes Bauaufmaß, hat der Bauherr mit dem Architektenaufmaß zu viel bezahlt.
Will die erste Gruppe ein exaktes Bauaufmaß beauftragen, bedarf es großer Anstrengung, den Bauherrn von der Nachhaltigkeit eines Bauaufmaßes zu überzeugen. Der Nutzen eines Bauaufmaßes ist leider nicht direkt greifbar. Es liefert keinen erkennbaren Baufortschritt. Meist bleibt es dann bei einem Überzeugungsversuch. Der Dumme ist wieder der Bauherr. Und bei öffentlichen Bauherren sind es leider wir, die Steuerzahler.
Zweiter Kompromiss: Reduktion der Qualität
Das Ergebnis eines Bauaufmaßes ist ein Wirtschaftsgut, das unter anderem nach Lieferzeit und Kosten bewertet wird. Aus dieser Situation heraus entstehen Einwände von Bauherren, Projektsteuerern, Projektleitern: keine Zeit, kein Geld, das hat noch niemand gebraucht! Der Architekt soll sehen, wie er klar kommt. Es gibt noch alte Pläne: Die sehen doch gut aus!
Gleich zu Beginn des Projektes wird gespart, gespart an den Grundlagen. Man will zu Beginn kein Geld in die Hand nehmen, weil man vielleicht nicht kann, nicht darf. „Das Baubudget wird aus politischen Gründen kaum je noch ausreichend kalkuliert. Aus Furcht vor der öffentlichen Meinung oder den genehmigenden Behörden nennen Politiker Summen, die bis um die Hälfte niedriger liegen, als diese Bauvorhaben im vergleichbaren Ausland kosten würden. Die Dumpingpreise können von vielen Baufirmen kaum aufgefangen werden. Der provozierte Pfusch am Bau wird in der Regel durch einen Preisabschlag abgegolten.“89
Peter Zumthor: „Viele Leute von der Bauverwaltung hatten mir gesagt, man müsse erst einmal mit dem Bauen anfangen, das fehlende Geld würde dann später schon genehmigt werden. Ich war naiv, das gebe ich zu.“90
Aus Zeitgründen werden oftmals die vorhandenen Archivpläne herangezogen. Wenn dann die Entwurfsphase als umsetzungswürdig betrachtet wird, soll ein Vermessungsingenieur den Bestand erfassen. Nicht nur einmal habe ich es erlebt, dass ein erregter Architekt ungläubig den Bestandsplan anstarrt und feststellt: Mein Entwurf passt ja gar nicht in den Bestand!?
Je nachdem wie weit der Entwurf bereits in die Planungsphase übergegangen ist, wird nun nicht die Planung auf Basis der nun gesicherten Bestandskenntnis neu entwickelt. Vielmehr wird die bereits vorliegende Planung nur an den gravierenden Stellen überarbeitet; der Rest wird im laufenden Ausführungsbetrieb angepasst. Am Ende schließt die Architektenleistung mit der dokumentierten Ausführungsplanung, also genau mit den Plänen, die zu Beginn des Projekts aus dem Archiv gezogen wurden und in die die Planung eingearbeitet wurde. Die neuen, durch Aufmaß gesicherten Bestandspläne verschwinden in der Versenkung.
Statt den Baubestand gründlich zu vermessen, versucht man, das Bauaufmaß durch andere Mittel zu ersetzen. In den letzten dreißig Jahren gab es viele Ideen. Alle hatten das Ziel, möglichst gleichwertige Ergebnisse wie ein Bauaufmaß zu schaffen, ob durch „kreatives Vektorisieren“, wie der Werbespruch einer Firma aus den 1990ern lautete, womit vor allem diese Firma kreativ an Aufträge kam, oder durch „Nachzeichnen alter Pläne“, egal ob in Südamerika, China oder Indien.
Im geodätischen Institut der Universität Bonn hielt vor vielen Jahren ein Architekturreferent einen Vortrag über das höchst präzise Verfahren, alte Bauzeichnungen so in Lage und Breite zu entzerren, dass alle Zwischenmaße auf Millimeter abgreifbar wären. Er trug das Ergebnis so selbstsicher vor, dass kein Zweifel angebracht erschien. Und doch rumorte es im Plenum. Selbst die Studenten wussten instinktiv, dass sehr wohl Zweifel angebracht waren: Das höchst präzise Abgreifen war rein auf dem Papier und damit nur theoretisch; es hatte nichts mit der Realität zu tun. Das war das eigentlich Kuriose: Die Realität, die doch eigentlich der Gegenstand seines Handelns war, schien keine Rolle zu spielen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass das Verfahren zwar in sich geschlossen und möglicherweise mathematisch schön war, aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
Hädler weist darauf hin, „dass die Erwartung, aus Altplanbeständen ließen sich durch Scannen und Nachbearbeiten zuverlässige Planungsgrundlagen erstellen, in den Bereich der Legende gehört.“91 Das Rheinische Amt für Denkmalpflege bemerkt zudem, dass selbst frühere Aufmaße gegenüber modernen Aufmaßen schlechter waren. Schlechtere Aufmaße können jedoch durchaus präzise gezeichnet sein. Das heißt aber nicht, dass sie auch zuverlässig sind.
Auch wenn die Sachverhalte mitunter komplex erscheinen: Alles kann darauf zurückgeführt werden, ob Verfahren, Vorstellungen, Werkzeuge sich auf die reale Welt beziehen oder ob ihre Anwendung in einem von der Realität losgelösten Raum besonderer Weltanschauung lebt. Während der Verstand die Richtigkeit der Aussage anerkennt, ein Bauaufmaß liefere gute Planungsgrundlagen, streift der Wille verschiedene Aspekte menschlicher und gesellschaftlicher Erscheinungsformen der Ablehnung. Der Verstand sagt: „Na klar! Wir müssen eine ordentliche Bestandsaufnahme durchführen.“Der Wille hat sich längst für den Kompromiss entschieden. Wir reduzieren die Qualität. Die Qualität wird reduziert, das Risiko veralteter Planunterlagen in Kauf genommen. Aus Kostengründen.
Dritter Kompromiss: Reduktion der Quantität
Irgendwann erkennt jeder: Gleichwertigkeit gibt es nicht. Allen vorhandenen Unterlagen haftet jener Zweifel an, der Gift ist für erfolgreiches, das heißt unter anderem auch wirtschaftliches, also kostengünstiges Planen im Bestand. Den Schaden bei einem Planungsmisserfolg trägt der Eigentümer der Unterlagen, in der Regel also der Bauherr oder bei öffentlichen Bauten wieder einmal wir Steuerzahler. Nach dieser Erkenntnis haben andere Gedanken zur Art der Bestandsaufnahme keinen Spielraum. Nur das Bauaufmaß schafft qualitativ zweifelsfreie Grundlagen für das Planen im Bestand.
Akzeptiert man das, verfällt man leicht auf einen anderen Gedanken: Wenn schon qualitativ angemessen, dann reduziert auf das, was unbedingt notwendig ist: Reduktion in der Quantität. Wieder hat sich der Kosten-Spar-Wille gegen den Nachhaltigkeits-Qualitäts-Verstand durchgesetzt. Planungsprojekte umfassen oft nicht den Baukörper gesamt, sondern nur einen Teil, zum Beispiel energetische Sanierung des Daches, der Fassade. Warum soll das ganze Gebäude vermessen werden, wenn nur ein Teil betroffen ist? Dieser Gedanke leuchtet ein. Die Vorgehensweise ist pragmatisch. Sie beachtet die Erkenntnis, dass belastbare Ergebnisse wichtig sind, aber sie besitzt auch den ausnehmenden Charme, die Kosten gering zu halten. Die Strategie lautet: Teilaufmaß, projektbezogen. Hier mal das, dort mal jenes. Nur das erfassen, was man gerade braucht. Nicht mehr.
Seit einigen Jahren steht bei öffentlichen Bauherren die energetische Sanierung an oberster Stelle der Tagesordnung. Das betrifft vor allem die Fassaden. Der Bund bezuschusst die Aktion. – Wie viele Teilbestandspläne mögen wohl entstehen und bereits entstanden sein? Kaum ein öffentlicher Bauherr denkt an nachhaltiges Handeln, indem er die Gelegenheit nutzt und mit der energetischen Sanierung auch seine Planunterlagen erneuert. Der Verstand mag Ja sagen, der Wille hat sich längst dagegen entschieden.
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