• Im zweiten Jahrzehnt werden Programme mehr und mehr aus der „Cloud“ gestartet. Das vernetzte Arbeiten fasst Fuß, Building-Information-Modeling (BIM) heißt die Parole. Das dreidimensionale Bauwerkinformationsmodell verspricht Transparenz, Kostenersparnis und Qualitätssicherung. Zentraler Angelpunkt ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit aller am Bau Beteiligten. Das BIM bildet das Kommunikationsmedium. Zwar beschränkt sich BIM bislang überwiegend auf Neubauten, doch das Planen im Bestand verlangt ebensolche Modelle und beeinflusst so die Art und Weise, wie Baubestand erfasst wird.
Die Entwicklung der letzten dreißig Jahre hat das Bauaufmaß massiv beeinflusst: in seiner technischen Ausrichtung, aber vor allem in seinem Wesen. Es stimmt mich traurig, mit welcher Trotzigkeit vereinzelte Bauforscher darauf pochen, dass das eiserne Gesetz vom Messen und Zeichnen als Einheit zwingend einzuhalten sei. Selbst in der Wikipedia steht dieser Unfug.43 In der kurzen Geschichte der modernen Bauforschung zieht sich eine Kette der Ignoranz bis heute. So wie man verkannte, dass das verformungstreue Aufmaß kein Wissenschaftsmerkmal ausmacht, so ignoriert man noch heute das Sinnvolle moderner Erfassungstechnik. Man gewinnt den Eindruck: Hätte die Bauforschung ihre Aufmaßtechnik in der Steinzeit entwickelt, würde sie heute darauf pochen, dass nur der in Stein gemeißelte Bauplan wirklich verwertbar sei.
Bauen im Bestand erfordert stimmige Planungsgrundlagen. Die Forderung nach exakter Dokumentation ist insofern eine allgemeine, notwendige, aber auch eine hinreichende Forderung. Diese Forderung hat nichts mit Denkmalschutz oder Denkmalpflege zu tun. Sie hat auch nichts mit Blei auf Karton zu tun. Es geht auch nicht um Verformungstreue oder die Notwendigkeit, Messen und Zeichnen vor Ort zu vereinen. Es geht schlicht um Bestandspläne, die die gebaute Wirklichkeit repräsentieren, ein zeichnerisches Abbild, das mit dem realen Bauwerk maßlich-geometrisch übereinstimmt.
Das Bauaufmaß vermag in unterschiedlicher Darstellungstiefe differenziert zu erfassen, je nach Anforderung. Diese Anforderung kann sich aus dem Denkmalschutz und der Denkmalpflege ergeben. Die Eigenschaft Denkmal erhöht die Anforderung an das Ergebnis, aber sie definiert nicht die Methoden des Bauaufmaßes. Die meisten Ergebnisse werden heute für das Bauen im Bestand benötigt. Das Planen im Bestand verlangt zweifelsfreie Bestandspläne. Das ist der entscheidende Vorzug des Bauaufmaßes: Es beseitigt den Zweifel, der jenen Plänen anhaftet, von denen wir nicht wissen, wie sie entstanden sind. Für Planungsentscheidung und Folgenabschätzung brauchen wir belastbare, gesicherte Bestandskenntnis.
Herzlich willkommen! Wir sind angekommen in der Gegenwart, wo das gewöhnliche Bauen im gewöhnlichen Bestand den größten Bedarf anmeldet für gewöhnliche Bauaufmaße: exakt und digital.
1.02 Ein neues Leistungsbild entsteht
Wo nichts ist, lässt sich Neues einfach planen. Wo aber Vorhandenes Bindungen setzt, ist die Kenntnis des Bestandes unabdingbar für eine qualitativ hochwertige Planung. Je früher sich der Planer in den Bestand auf sensible Weise und gleichzeitig auf hohem technischem Niveau einarbeiten kann, umso höher wird die Qualität des Planungsergebnisses sein.
So stellt das Planen im Bestand erste Anforderungen an das Bauaufmaß: Das Bauwerk soll in seiner Form maßlich-geometrisch erfasst, und seine Konstruktion soll erklärt werden. Das Planen im Bestand verlangt belastbare Planungsgrundlagen; das Bauaufmaß liefert diese Grundlagen.
Die Wissenschaft Bauforschung stellt weitere Anforderungen. Sie ergeben sich aus der Frage, die die Wissenschaft an das Bauwerk stellt. Dem Aufmaß kommt die Aufgabe zu, Indizien für eine Antwort zu liefern, aber auch Theorien zu bekräftigen oder zu widerlegen. Beispielsweise richteten sich Großmanns Untersuchungen an der Veste Heldburg unter anderem nach den Fragen: „Welche Bausubstanz geht noch auf das Mittelalter zurück und wie sah die Burg im Mittelalter aus, was bedeutet die kontinuierliche Nutzung der Burg für die verbreitete Hypothese der Burgenforschung, dass der Burgenbau mit Einführung der Feuerwaffen zum Erliegen kam, wie hat sich der Ausbau der Burg ab dem 16. Jh. ausgewirkt und welche Funktionen haben die Burg und ihre einzelnen Räume nun?“44
Das Bauaufmaß kann dazu beitragen, die Fragen zu beantworten. Doch sicher ist das nicht. Forschen bedeutet ja, etwas entdecken, von dem man nicht weiß, ob es da ist. Man kennt das aus der Physik, dem klassischen Forschungsmetier: In der Physik vermögen Theorien das Weltbild zu verändern. Weithin bekannt ist der Übergang vom geo- zum heliozentrischen System. Albert Einstein hat die Physik Newtons erweitert und damit das alte Weltbild Newtons über Bord geworfen. Neue Theorien setzen sich durch, wenn sie mit der Realität besser übereinstimmen als die alten. – Was bringt die Wissenschaft Bauforschung?
Im Vorwort zum Buch des Burgenforschers Joachim Zeune heißt es: „Burgen lösen in unserer Phantasie oft ein romantisch verklärtes Bild aus, begründet durch Geschichten und Erzählungen. Aus der Vielzahl untersuchter Burgen hat jedoch Joachim Zeune ein neues, zeitgemäßes Burgenbild entstehen lassen.“45 Häuser und Städte sind Geschichtsquellen. Sie sind stumme Zeugen einer oftmals lange zurückliegenden Lebenswelt der Menschen. Ihre technisch, besonders bautechnischkulturelle Lebenswelt zu ergründen, sie zu verstehen, sie zu erklären, das ist die Aufgabe der Bauforschung. Johannes Cramer erklärt: „Bauforschung fragt nach den Veränderungen eines Bauwerks, nach seinem ursprünglichen Zustand, nach den Gründen, die Menschen dazu bewogen, Umbauten vorzunehmen und die Ausstattung zu modernisieren. Sie fragt auch nach den Voraussetzungen, die solche Veränderungen zur Folge hatten und damit nach der Lebenswelt der Bewohner und Benutzer eines Bauwerks zu allen Zeiten.“46 In den zurückliegenden 25 Jahren [Stand: 2005], so Cramer weiter, hat die Historische Bauforschung das Bild unserer Vergangenheit und der frühen Lebensumstände radikal verändert.
So, wie die Physik das Weltbild beeinflusst, das Denken formt, so schafft die Wissenschaft Bauforschung eine bestimmte Sichtweise auf unsere Baukultur, auf unseren Umgang mit Gebäuden, eine wissenschaftlich begründete Denkbasis. Die so verstandene Bauforschung ist „immer Bestandteil der Architekturgeschichte und im weiteren Sinne auch der Kunstgeschichte, ja, sie gehört inzwischen als wesentlicher Teil zu deren Grundlagenforschung.“47
Es ist interessant, dass wir im Rahmen der Wissenschaft Bauforschung nicht von Denkmälern sprechen. So, wie die Denkmalämter schon lange existierten, bevor in den 1970ern die Denkmalschutzgesetze in Kraft traten, forschte man an historischen Bauten auch schon in früheren Jahrhunderten. Nicht das Denkmal steht im Vordergrund, sondern der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn.
Die Konsequenz aus dem Denkmalschutz heißt Denkmalpflege. Mit ihr sind zwei Aufgaben verbunden, die über das gewöhnliche Planen im Bestand hinausgehen: das Entziffern historischer Quellen und die Bewahrung der so erkannten Quellen.48 Das Entziffern der Quellen ist Aufgabe der Historischen Bauforschung, der Kunstwissenschaft, der Volkskunde. Das Bewahren der Botschaften und Zeugnisse ist Aufgabe der Denkmalpflege. Sie baut immer auf den Ergebnissen der Voruntersuchung auf. Die Voruntersuchung soll die Geschichte und den Zustand des Objektes feststellen und dokumentieren.49
Gert Mader bezeichnet diese Voruntersuchung als angewandte Bauforschung. Sie umfasst mindestens zwei Arbeitsphasen: 1. Genaue Vermessung und Darstellung, 2. Befunduntersuchung wie Malschichten, Putzschichten, Konstruktionen.50 „Die [angewandte] Bauforschung in der Denkmalpflege verhält sich grundsätzlich pragmatisch, d. h. maßnahmenorientiert. In der Regel wird sie von aktuellen Bauvorhaben bestimmt und richtet ihren Einsatz sowie den Umfang ihrer Untersuchungen nach den beabsichtigten Eingriffen oder Veränderungen der Bausubstanz“, so die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland.51
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