Als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe das Gesicht des ungebetenen Gastes erhellte, erkannte er die Person, die mit einer schwarzen Hose, einer schwarzen Jacke, sowie einem Schal und einer tief in die Stirn gezogenen Mütze bekleidet war.
„Du? Was willst du denn hier am See?“, rief er völlig überrascht aus.
Seine Stimme schallte durch die lautlose Nacht. Aber niemand würde durch seinen Ausruf erschreckt werden, denn er war heute wieder einmal der einzige Angler am See. Durch die großen Kormorankolonien, die häufig über den See herfielen und den Fischbestand erheblich reduzierten, war der Sieglarer See in Anglerkreisen nicht besonders beliebt. Die meisten Angler bevorzugten den wesentlich fischreicheren Rotter See.
„Mach das Licht aus und setz dich wieder hin. Wir müssen reden“, forderte ihn die Person eindringlich auf.
„Wir haben nichts miteinander zu reden. Schon gar nicht hier am See“, entgegnete Franz Bertram aufgebracht.
In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen das gezückte Messer sprang er auf seinen unwillkommenen Besucher zu, um ihn von seinem Angelplatz zu drängen, auch wenn der Besucher wegen des Messers in Franz Bertrams Hand Schlimmeres befürchtete.
Sein Angelstuhl kippte dabei um und fiel auf seinen kleinen, geöffneten Koffer, der ebenfalls scheppernd umfiel. Der Inhalt verstreute sich über die leicht abschüssige Angelstelle. War es sein Kreislauf, der durch das plötzliche Hochspringen außer Kontrolle geriet, oder war es der Bierkonsum? Im Nachhinein würde es letztlich nicht feststellbar sein, was der Grund für sein Taumeln war.
Statt in Richtung der Person, torkelte er rückwärts, verlor das Gleichgewicht vollends und stürzte in den See, der zu dieser Jahreszeit viel zu kalt für ein Bad war. Der See war an dieser Stelle bis ein, zwei Meter vom Ufer entfernt noch nicht sehr tief. Franz ruderte kräftig mit den Armen. Er zog seine Beine an, um sich aufzurichten und schnell aus dem kalten Wasser zu gelangen. Überraschend gewandt gelangte er in eine sitzende Position. Und schon ragten sein Kopf und seine Schultern aus dem Wasser.
„Jetzt nach vorne beugen und aus dem See heraus. Dann werde ich dir zeigen, dass man so mit einem Franz Bertram nicht umgehen kann“, dachte er.
Plötzlich erhielt er einen Stoß gegen die Brust und fiel erneut rückwärts in den See. Das kalte Wasser schwappte über sein Gesicht und lief in seinen um Luft ringenden, geöffneten Mund. Er schloss seinen Mund und musste mehrmals schlucken, um ihn vom Seewasser zu befreien.
Er wollte sich erneut aufrichten. Ein starker Druck auf seine Kehle verhinderte jedoch, dass er seinen Kopf aus dem Wasser heben konnte. Angst und Panik machte sich bei Franz breit. Sein Sauerstoffvorrat war beinahe erschöpft.
Mit aller Kraft, die ihm seine Panik verlieh, versuchte er erneut, sich gegen den Druck auf seiner Kehle zur Wehr zu setzen, und den Kopf über Wasser zu bekommen. Er ruderte mit den Armen und versuchte mit den Beinen Halt zu finden. Vergeblich.
Inzwischen hatte sich seine dicke Kleidung, die ihn gegen die Kälte schützen sollte, mit Wasser vollgesogen. Wie eine Bleiweste hingen die Kleidungsstücke an ihm. Er musste seinen Kopf unbedingt über Wasser bekommen, egal wie.
Sollte das sein Ende sein?
Vor seinen Augen tanzten Sterne. Seine Lunge schien zu zerbersten. Er musste seinen Mund öffnen und nach Luft schnappen. Unbedingt. Als er den Mund öffnete und seine Lungen gierig Sauerstoff einsaugen wollten, erreichte nur ein Schwall Wasser seine Lunge und seine Bronchien. In seinem Kopf platzte nacheinander Stern um Stern, bis nur noch ein grelles, weißes Licht vorhanden war.
Aber auch dieses Licht erlosch. Franz Bertram nahm nicht mehr wahr, dass sich der Druck auf seine Kehle verringerte und schließlich ganz verschwand.
„Das hast du nun davon“, flüsterte die dunkel gekleidete Gestalt.
Der nächtliche Besucher schaute zufrieden über den See, ohne Franz Bertram eines weiteren Blickes zu würdigen. Den Kescher, mit dessen Griff er Franz Bertram unter Wasser gedrückt hatte, hielt er noch immer am Ende der Teleskopstange, dort wo das Netz begann, in der Hand. Mit der Sicherheit, dass ihn niemand beobachtet hatte, drehte er sich ruhig um und verließ den Angelplatz. Den Kescher, der als Beweisstück gegen ihn verwandt werden könnte, nahm er zu seiner Sicherheit mit.
Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich die Pose mit dem Knicklicht in Zickzack-Linie über die ruhige Wasseroberfläche, bevor der Aal sie mit einem Ruck unter Wasser zog. Er hatte sich am Haken festgebissen und niemand war da, ihn zu erlösen.
Auf Zehenspitzen schlich ich vom Schlafzimmer die Treppe hinunter zum Hausflur und von dort in den Keller, um meine Laufschuhe zu holen.
Bereits im Schlafzimmer hatte ich möglichst geräuschlos meine Laufbekleidung angezogen. Meine Frau, mit der ich bereits über dreißig Jahre verheiratet war, sollte weiterschlafen können. Laut Wetterbericht sollten die Temperaturen in der Nacht erstmals unter 10 Grad gesunken sein. Ich hatte daher lange Leggings und ein wärmendes Laufshirt mit langem Arm ausgewählt. Nochmals hoch zum Schlafzimmer und ein Blick zum Bett. Meine Frau schlief noch fest. Auf dem Rückweg würde ich beim Bäcker vorbeilaufen und Brötchen für das Frühstück mitbringen. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, dass meine Frau bis dahin aufgewacht sei und mich köstlicher Kaffeeduft empfangen würde.
Nachdem ich die Schuhe wie immer sorgfältig geschnürt hatte, steckte ich noch zwei Euro für die Brötchen ein und zog leise die Haustüre hinter mir zu.
Auch wenn ich es erwartet hatte, war ich doch über die Kälte überrascht, die mich draußen empfing. Ein kurzer Druck auf die Stoppuhrtaste meiner Armbanduhr, und der Frühsport konnte beginnen.
Gestern war es spät geworden, und vielleicht hatte ich auch ein Glas Wein zu viel getrunken. Mit leichten Kopfschmerzen war ich recht früh aufgewacht. Einschlafen konnte ich nicht mehr. Ich hatte mich daher für eine früh-morgendliche Laufrunde in der Siegniederung entschieden. Joggen in frischer Luft würde bestimmt meine Kopfschmerzen vertreiben.
Der Weg führte mich durch die noch menschenleeren Wohnstraßen bis zum Hochwasserschutzdamm der Sieg. Von dem erhöhten Damm hatte ich einen weiten Blick über die herrliche Auenlandschaft. Über den Wiesen und Feldern hing noch ein leichter Nebelschleier, der sich jedoch in Kürze auflösen würde. Ich folgte dem Schutzdamm bis zur Höhe des Sportplatzes der Fortuna Müllekoven. Hier verließ ich den Damm und orientierte mich in Richtung Siegufer. Dort begann mein Rückweg über einen Feldweg entlang der Sieg.
Ich freute mich bereits auf einen Schlenker um den Sieglarer See, den ich fest eingeplant hatte. Ich liebte die morgendliche Stille und die noch unberührte Natur am See. Außerdem kam der weiche Boden dort meinen Gelenken zugute. Am Südost-Ufer hatte der See eine Furt, wo er mit der direkt vorbeifließenden Sieg verbunden war. Der Fluss führte heute nur mäßig Wasser, und der grobe Kies in der Furt war zwar nass, aber die Furt ohne Probleme passierbar.
Der See lag jetzt verträumt in der morgendlichen Stille vor mir. Lediglich die Enten gackerten bereits in den noch über den See liegenden Nebelschwaden. Im nördlichen Teil des Sees hatte sich der Nebel bereits vollständig gelichtet und die ersten Sonnenstrahlen brachen sich im spiegelglatten Wasser.
Ich war verschwitzt, und da ich mein Lauftempo beim Durchqueren der Furt gedrosselt hatte, wurde mir zunehmend kalt. Hätte ich doch nur ein noch dickeres Wintershirt angezogen, haderte ich mit mir.
Langsam erhöhte ich wieder mein Tempo, jedoch nur so viel, dass ich den Blick über den See genießen konnte, ohne Gefahr zu laufen, über einen Stein oder einer Wurzel zu straucheln. Ich befand mich inzwischen am nördlichen Ende des Sees und musste jetzt den direkten Uferweg verlassen. Noch ein kurzer Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Dort ragen hohe Bäume und dichtes Springkraut in den Himmel. Aber es gab auch den ein oder anderen versteckten, kleinen Angelplatz, der nur von dieser Uferseite einzusehen war.
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