„Zu einem Heiligen scheinen weder Aufrufe zu Kampf, aktivem Widerstand, noch gar zu Blutvergießen zu passen“, meint auch Monsignore Barillo, als beide im Speisesaal eines römischen Hotels sitzen.
„Was wiederum nur beweist, mein lieber Giuseppe, wie wenig die Menschen über Kirchengeschichte Bescheid wissen! Sonst wäre ihnen bekannt, dass viele ‚Heilige’, sofern sie den höheren Chargen der weltlichen oder kirchlichen Hierarchie angehörten, Blut an ihren Händen hatten. Manche sind sogar buchstäblich darin gewatet“, behauptete der Kardinal gegenüber seinem Adlatus Giuseppe Barillo, als beide am nächsten Tag ein spätes Mittagsmahl zu sich nehmen. Vor ihm kann er sich offen äußern, ohne Gefahr zu laufen, dass der Monsignore ihn verpetzt.
Trotz der Verschiedenheit beider Männer überwiegen bei dem Untergebenen die Gefühle von Ergebenheit und Zuneigung. „Es bleibt mir in der Tat ein Rätsel, warum gerade Obembe, dieser bis dato nicht besonders durch zündende Ideen und zielführende Vorschläge zum Frieden oder zu sonst irgendetwas Erfreulichem aufgefallene Kardinal, als Papst auf einmal so riesige Hoffnungen auf sich vereinigt. Aber so eine provokante Frage stellt auch niemand – zumindest nicht laut! Auch ich halte mich mit Kritik wohlweislich zurück!“
„Sicher scheint nur Folgendes“, wirft Giuseppe Barillo ein: „Die Mehrheit der Menschen aller Rassen, Religionen und Weltanschauungen hat inzwischen genug von Intoleranz, Aufstachelung zu Krieg, zu Mord und Totschlag ‚im Namen Gottes’. Die meisten sind der vielen törichten Hasspredigten überdrüssig – genauso wie der ständigen Verunglimpfung und Diffamierung Andersdenkender.
Allmählich scheint auch der Dümmste zu bemerken, dass all das Gehetze nicht weiterbringt und die eigenen bescheidenen Lebensumstände um kein Jota verbessern hilft!“
„Vielleicht ist das auch mit ein Grund, weshalb man weltweit seine geharnischte, diplomatisch ausgedrückt, wenig von Klugheit geprägte Antrittsrede gar nicht weiter kommentiert hat“, vermutet Carlo di Gasparini, während er Barillo beobachtet, der wie immer beim Essen ordentlich zulangt – ohne jemals auch nur ein Gramm an Gewicht zuzunehmen. Beneidenswert.
„Es ärgert mich immer noch, dass es als Reaktion auf Leos ‚Kriegspredigt’ keinen empörten Aufschrei gegeben hat. Da habe ich mir doch zumindest heftigen verbalen Widerstand erwartet!“
* * *
Sooft er künftig in den Räumlichkeiten des Heiligen Vaters verweilt, hält der Kardinal sich bewusst etwas im Hintergrund und widmet sich lieber dem herrlichen Rotwein, den Schwester Monique eigenhändig in die Pokale einzugießen pflegt.
Die Nonne hat ihre schönen schwarzen Augen überall; niemals entgeht ihr, wenn ein Gast auf dem Trockenen sitzt. Während er seine dunklen, etwas wässrigen Äuglein wohlwollend über die Gestalt der Nonne gleiten lässt, macht sich ein Gefühl von Neid in seinem Herzen bemerkbar: ‚Warum nur hat dieser Kerl so ein unglaubliches Glück? Für ein solches Weibsbild als Geliebte würden manche ‚normal veranlagte’ Kleriker sogar morden …’
Wie ein Schatten gleitet sie an di Gasparinis Seite, ganz so, als habe sie es gespürt, dass seine Gedanken ihr gelten und versorgt ihn lächelnd erneut mit dem köstlichen Getränk aus dem Burgund, das der Papst nur ganz besonderen Gästen gönnt. Normalerweise werden am Tisch des Pontifex Weine aus Südafrika kredenzt – gewiss auch sie köstliche Tropfen.
Kurz darauf bemüht sich Schwester Monique erneut um den Kardinal, indem sie ihm auf einer Silberschale vorzügliches Mandelgebäck aus Florenz anbietet. Erneut mustert der ältliche Prälat die rassige Schwarze: ‚Die ‚Fürsorge’ so einer ‚Schwester’ ließe ich mir auch gerne auf Dauer gefallen …’
Obwohl natürlich nicht alle Anwesenden den gleichen Standpunkt wie der Papst vertreten – egal, zu welchem Thema er sich äußert – provoziert Leos Rede anscheinend niemals jemanden zu offenem Widerspruch.
‚Vielleicht ist es tatsächlich so, dass ein echter Konsens des friedlichen Miteinanders aller denkenden Individuen der Spezies homo sapiens gar nicht möglich ist’, denkt der Kardinal mit einer gewissen Ernüchterung, während er verzückt das Bouquet des edlen Weines einatmet. ‚Die Menschheit braucht anscheinend Krisen, Konflikte und Gewalt – und das Geschrei nach Frieden ist lediglich ein Wunsch, der im Grunde gar nicht in Erfüllung gehen soll!’
Diesen Gedanken möchte Kardinal Carlo di Gasparini demnächst mit seinem Sekretär besprechen. Obwohl er Monsignore Barillo nicht immer mit dem ihm zustehenden Respekt behandelt – im Gegenteil! – schätzt er seinen Intellekt doch sehr hoch ein.
Nachdem sich die Gäste des Heiligen Vaters verabschiedet haben, gesteht Papst Leo seiner Geliebten Monique, er selbst habe eigentlich mit einem gewaltigen Echo seiner Antrittsrede im Petersdom gerechnet. Nebenbei gesagt hatte ihm Schwester Monique von dieser Predigt eindringlich, aber leider vergeblich, abgeraten … Sie hatte noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt, als Leo XIV. schon ihren Rat, eigentlich ihre Zustimmung, erbeten hatte.
Als er diese nicht erhielt, die Nonne im Gegenteil entsetzt war über die aggressive Wortwahl, war Seine Heiligkeit eingeschnappt gewesen. Monique hatte sich ihre Ankunft im Vatikan eigentlich anders vorgestellt gehabt … Immerhin haben sie miteinander geschlafen.
Der Heilige Vater scheint das bereits vergessen zu haben, so distanziert, wie er sich ihr gegenüber immer noch gibt. Zum ersten Mal beschleicht sie eine leise Ahnung, es könne sich zwischen ihnen seit seiner Wahl zum Papst etwas Entscheidendes geändert haben. ‚Wollte er womöglich gar nicht, dass ich ihm nach Rom folge?’, überlegt sie mit einer Mischung aus Sorge, Selbstmitleid und Verbitterung. ‚Es wäre fairer gewesen, mir das rechtzeitig zu sagen!’
Leo XIV. ahnt nichts von den Gedanken, die auf seine Geliebte einstürmen. „Ich erhoffte mir ein leidenschaftliches Pro und Kontra, voll aufgewühlter Emotionen, deren Spektrum sich von frenetischer Zustimmung bis zu hysterischer Ablehnung erstrecken sollte.
Stattdessen, ma Chère: Nichts dergleichen! Nur sehr höfliche Zurkenntnisnahme, im Höchstfall lauwarme Zustimmung sowie Lob für eine ‚maßvolle und exzellente Formulierung’.
Das war keineswegs das von mir gewünschte Ergebnis. Dass ich brillant zu predigen verstehe, weiß ich selbst. Das mangelnde Echo auf meine allererste Predigt als Papst ist für mich ziemlich ernüchternd gewesen.“
Monique schenkt ihm zwar höflich Gehör, weiß aber ebenfalls keine Antwort darauf. Im Übrigen ist sie mit ihren Gedanken ganz woanders: Ihr schon seit frühen Mädchentagen geliebter Maurice hat sich zweifellos verändert.
‚Ob es der ungewöhnliche Stress ist, den er bisher als Kardinal nicht gewöhnt war?’, fragt sie sich gerade. Das würde sie zwar sehr bedauern, aber es wäre immerhin eine Erklärung, die sie nachvollziehen könnte. Sie überlegt, wie und inwieweit man Leo entlasten könnte, um ihm – und ihr – das bisher gewohnte einträchtige Miteinander wieder zu ermöglichen.
Augenblicklich sind sie nämlich weit davon entfernt, ein Liebespaar zu sein, so wie sie es seit fünfundzwanzig Jahren immer gewesen sind: In der zehnten Nacht, die seiner Wahl zum Pontifex folgte, als sie im Vatikan eingetroffen ist, hat er das letzte Mal mit ihr geschlafen; seither hat er sie nicht mehr angerührt. Das ist jetzt beinahe schon einen ganzen Monat her …
Dass der Status „Petrusnachfolger“ plötzlich impotent mache, davon hat sie noch nie gehört. ‚Soweit erstreckt sich nicht einmal die Wirkung des Heiligen Geistes, der angeblich bei jeder Kür des Kardinalskollegiums mitmischt’, denkt sie und muss unwillkürlich lächeln. Weder sie noch der neue Heilige Vater glauben an derlei „Kindereien“, wie Maurice es immer genannt hat.
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