Karl Kautsky
Der Ursprung des Christentums
Alle 4 Bände: Eine historische Untersuchung: Die Persönlichkeit Jesu + Die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit + Das Judentum + Die Anfänge des Christentums + Der Kampf um das Jesusbild…
e-artnow, 2015
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-4154-8
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Der Ursprung des Christentums
Eine historische Untersuchung
Stuttgart, 1920.
Vorwort
I. Die Persönlichkeit Jesu
1. Die heidnischen Quellen
2. Die christlichen Quellen
3. Der Kampf um das Jesusbild
II. Die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit
1. Die Sklavenwirtschaft
2. Das Staatswesen
3. Denken und Empfinden der römischen Kaiserzeit
III. Das Judentum
1. Israel
2. Das Judentum seit dem Exil
IV. Die Anfänge des Christentums
1. Die urchristliche Gemeinde
2. Die christliche Messiasidee
3. Judenchristen und Heidenchristen
4. Die Passionsgeschichte Christi
5. Die Entwicklung der Gemeindeorganisation
6. Christentum und Sozialdemokratie
Inhaltsverzeichnis
Christentum und Bibelkritik sind Themata, die mich schon lange beschäftigen. Vor fünfundzwanzig Jahren veröffentlichte ich bereits im Kosmos eine Abhandlung über die Entstehung der biblischen Urgeschichte, und zwei Jahre später in der Neuen Zeit eine über die Entstehung des Christentums. Es ist also eine alte Liebe, zu der ich hier zurückkehre. Die Veranlassung dazu wurde gegeben, als eine zweite Auflage meiner Vorläufer des Sozialismus wünschenswert erschien.
Die Kritik dieses Buches, soweit sie mir zu Gesicht gekommen ist, hatte hauptsächlich die Einleitung bemängelt, in der ich den Kommunismus des Urchristentums kurz kennzeichnete: Das sei eine Auffassung, die vor den neuesten Ergebnissen der Forschung nicht standhalten könne.
Bald nach solchen Kritiken wurde aber auch, namentlich aus dem Munde des Genossen Göhre, verkündet, jene zuerst von Bruno Bauer verfochtene und dann in wesentlichen Punkten von Mehring und mir akzeptierte Auffassung sei überholt, der ich schon 1885 Ausdruck gegeben, daß über die Person Jesu gar nichts Bestimmtes zu sagen sei und das Christentum ohne Heranziehung dieser Person erklärt werden könne. Ich wollte daher eine Neuauflage meines Buches, das vor dreizehn. Jahren erschienen war, nicht bewerkstelligen, ohne meine durch ältere Studien gewonnenen Anschauungen vom Christentum einer Nachprüfung an der Hand der neuesten Literatur darüber unterzogen zu haben.
Ich kam dabei zu dem angenehmen Ergebnis, daß ich nichts zu revidieren habe. Wohl aber eröffneten mir die jüngeren Forschungen eine Fülle neuer Gesichtspunkte und Anregungen, so daß aus der Nachprüfung meiner Einleitung zu den Vorläufern ein ganzes neues Buch erwuchs.
Natürlich beanspruche ich nicht, den Gegenstand zu erschöpfen. Dazu ist er zu riesenhaft. Ich bin zufrieden, wenn es mir gelungen ist, zum Verständnis jener Seiten des Christentums beizutragen, die mir vom Standpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung als die entscheidenden erscheinen.
Ich kann mich sicher auch an Gelehrsamkeit in Fragen der Religionsgeschichte mit den Theologen nicht messen, die deren Studium zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, während ich das vorliegende Buch in den Mußestunden zu schreiben hatte, die redaktionelle und politische Tätigkeit mir in einer Zeit ließen, in der die Gegenwart jeden an den modernen Klassenkämpfen teilnehmenden Menschen völlig gefangen nahm, so daß für die Vergangenheit kaum Platz blieb: in der Zeit, die zwischen dem Beginn der russischen und dem Ausbruch der türkischen Revolution liegt.
Aber vielleicht ist es gerade meine intensive Beschäftigung mit dem Klassenkampf des Proletariats, wodurch mir Einblicke in das Wesen des Urchristentums ermöglicht werden, die den Professoren der Theologie und Religionsgeschichte ferne liegen.
J.J. Rousseau sagt einmal in seiner Julie:
„Ich finde, es ist eine Narrheit, die Gesellschaft (le monde) als bloßer Zuschauer studieren zu wollen. Derjenige, der bloß beobachten will, beobachtet nichts, denn da er unnütz bei den Geschäften ist und lästig bei den Vergnügungen, wird er zu nichts ·zugezogen. Man sieht das Handeln der anderen nur in dem Maße, in dem man selbst handelt. In der Schule der Welt wie in der der Liebe muß man mit der praktischen Ausübung dessen anfangen, was man erlernen will.“ (Zweiter Teil, 17. Brief)
Man kann diesen Satz vom Studium der Menschen, auf das er hier beschränkt wird, auf die Erforschung aller Dinge ausdehnen. Nirgends kommt man weit mit bloßem Zusehen ohne praktisches Eingreifen. Das gilt sogar von der Erforschung so weit entfernter Dinge wie der Sterne. Wo wäre die Astronomie, wenn sie sich auf reines Beobachten beschränkte, wenn sie sich nicht mit der Praxis verbände, mit dem Teleskop, der Spektralanalyse, der Photographie! Aber noch mehr gilt das von den irdischen Dingen, denen unsere Praxis ganz anders an den Leib rücken kann als bloßes Zusehen. Was uns das reine Anschauen von ihnen lehrt, ist blutwenig im Vergleich zu dem, was wir durch unser praktisches Wirken auf diese Dinge und mit diesen Dingen erfahren. Man denke nur an die ungeheure Bedeutung, die das Experiment in der Naturwissenschaft erlangt hat.
In der menschlichen Gesellschaft sind Experimente als Mittel ihrer Erkenntnis ausgeschlossen, aber deswegen spielt die praktische Betätigung des Forschers hier keineswegs eine weniger bedeutende Rolle, freilich mir unter den Voraussetzungen, die allein auch das Experiment zu einem fruchtbaren gestalten. Diese Voraussetzungen sind die Kenntnis der wichtigsten Erfahrungen, die andere Forscher schon vorher gemacht, und die Vertrautheit mit einer wissenschaftlichen Methode, die den Blick für das Wesentliche jeder Erscheinung schärft, es ermöglicht, das Wesentliche vom unwesentlichen zu scheiden und das Gemeinsame in verschiedenen Erfahrungen zu entdecken.
Ein Denker, der mit diesen Voraussetzungen ausgerüstet au das Studium eines Gebietes geht, auf dem er auch praktisch tätig ist, wird dabei leicht zu Ergebnissen gelangen können, die ihm als bloßem Zuseher unzugänglich blieben.
Das gilt nicht zum wenigsten von der Geschichte. Ein praktischer Politiker wird politische Geschichte, bei genügender wissenschaftlicher Vorbildung, leichter begreifen und sich eher in ihr zurechtfinden als ein Stubengelehrter, der mit den treibenden Kräften der Politik nie die geringste praktische Bekanntschaft gemacht hat. Namentlich dann wird der Forscher durch seine praktische Erfahrung begünstigt werden, wenn es sich um die Erforschung einer Bewegung jener Klasse handelt, in der er selbst wirkt, mit deren Eigenart er aufs beste vertraut ist. Das kam bisher freilich fast ausschließlich den besitzenden Klassen zugute, die die Wissenschaft monopolisierten. Die Bewegungen der unteren Volksklassen haben noch wenige verständnisvolle Erforscher gefunden.
Das Christentum war in seinen Anfängen unzweifelhaft eine Bewegung besitzloser Schichten der verschiedensten Art, die man unter dem Namen Proletarier zusammenfassen darf, wenn man unter diesem Ausdruck nicht Lohnarbeiter allein versteht. Wer die moderne Bewegung des Proletariats und das Gemeinsame ihrer Eigenart in den verschiedenen Ländern durch praktische Mitarbeit kennt, wer als Mitkämpfer des Proletariats dessen Fühlen und Sehnen mitempfinden gelernt hat, darf wohl erwarten, auch in den Anfängen des Christentums vieles leichter begreifen zu können als Gelehrte, die das Proletariat stets nur von der Ferne betrachtet haben.
Wenn sich aber der wissenschaftlich geschulte praktische Politiker vor dem bloßen Buchgelehrten bei der Geschichtschreibung in vielem begünstigt sieht, so wird dies freilich oft nur zu leicht wettgemacht dadurch, daß der praktische Politiker stärkeren Versuchungen unterliegt als der weltfremde Büchermensch, die seine Unbefangenheit trüben. Zwei Gefahren sind es insbesondere, welche die Geschichtschreibung der praktischen Politiker mehr als die anderer Forscher bedrohen: Einmal die Versuchung, die Vergangenheit ganz nach dem Bilde der Gegenwart zu modeln, und dann das Streben, die Vergangenheit so zu sehen, wie es den Bedürfnissen der Gegenwartspolitik entspricht.
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