KARL MAY
DER GEIST DES LLANO ESTACADO
ERZÄHLUNG AUS DEM WILDEN WESTEN
Aus
KARL MAYS
GESAMMELTE WERKE
BAND 35
„UNTER GEIERN“
© Karl-May-Verlag
eISBN 978-3-7802-1317-4
Die Erzählung spielt Mitte der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts.
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
DER GEIST DES LLANO ESTACADO
1. Bloody-Fox
2. Der Schuss in die Stirn
3. Wüstengeier
4. Eisenherz
5. Ein Spion
6. Geisterstunde
7. Argwohn
8. Das Singende Tal
9. Die Maske fällt
DER GEIST DES LLANO ESTACADO
1. Bloody-Fox
Zwei Männer kamen am Wasser dahergeritten, ein Weißer und ein Neger. Der Weiße war recht eigentümlich gekleidet. Er trug indianische Schuhe und Lederhosen, dazu einen einst dunkelblau gewesenen, jetzt aber arg verschossenen Frack mit Patten, hohen Achselpuffen und blank geputzten Messingknöpfen. Die langen Schöße hingen wie Flügel rechts und links an den Seiten des Pferdes herab. Auf dem Kopf saß ein riesiger, schwarzer Amazonenhut, den eine gelb gefärbte, unechte Straußenfeder schmückte. Bewaffnet war der kleine, schmächtige Mann mit einer Doppelbüchse, die über seiner Schulter hing, mit einem Messer und zwei Revolvern, die er im Gürtel trug. An dem Gürtel bemerkte man außerdem noch mehrere Beutel, wohl zur Aufnahme der Munition und allerhand notwendiger Kleinigkeiten bestimmt. Jetzt aber schienen sie ziemlich leer zu sein.
Der Schwarze war groß und breitschultrig. Auch er trug Mokassins und dazu helle Kalikohosen. Zu dieser Bekleidung des Unterkörpers wollte allerdings die des Oberkörpers nicht recht passen, denn sie bestand aus dem Waffenrock eines französischen Dragoneroffiziers. Dieses Kleidungsstück war gewiss beim französischen Einbruch nach Mexiko gekommen und hatte sich dann auf unbekannten Umwegen auf den Leib des Schwarzen verirrt. Der Rock war dem riesigen Neger viel zu kurz und viel zu eng. Er ließ sich nicht zuknöpfen und so konnte man die breite, nackte Brust des Reiters sehen, der wohl deshalb kein Hemd trug, weil es im Westen keine Wäscherinnen und Plätterinnen gibt. Dafür aber hatte er ein großes, rot und weiß gewürfeltes Tuch um seinen Hals gebunden und vorn zu einer riesigen Schleife zusammengezipfelt. Der Kopf war unbedeckt, damit man die unzähligen kleinen, fettglänzenden Löckchen, die er sich zurechtgemacht hatte, bewundern könne. Bewaffnet war der Mann ebenfalls mit einem Doppelgewehr, außerdem mit einem Messer, einem irgendwo entdeckten Bajonett und einer Reiterpistole, deren Geburtsjahr jedenfalls auf Anno Tobak anzusetzen war.
Beritten waren beide gut. Es war den Pferden anzusehen, dass heute ein weiter Weg hinter ihnen lag, und doch schritten sie noch so munter und kräftig aus, als hätten sie ihre Reiter kaum stundenlang getragen.
Die Ufer des Baches waren grün bewachsen, doch nur in einer gewissen Breite. Darüber hinaus gab es lediglich dürre Yuccas, fleischige Agaven und Büffelgras, dessen Blätter und Stängel auch allerhand Dürre zu widerstehen vermögen.
„Schlechte Gegend!“, meinte der Weiße. „Im Norden hatten wir es besser. Nicht wahr, Bob?“
„Yes“, bestätigte der Gefragte. „Massa Frank haben Recht. Hier es Masser Bob nicht sehr gefallen. Wenn nur bald an Helmers’ Home kommen, denn Masser Bob haben Hunger wie Walfisch, der Haus verschlingt.“
„Der Walfisch kann kein Haus verschlingen“, erklärte Frank dem Schwarzen. „Dazu ist seine Gurgel denn doch zu eng.“
„Mag Gurgel aufmachen, wie Masser Bob sie aufmacht, wenn er isst! Wie weit es noch sein bis Helmers’ Home?“
„Das weiß ich nicht genau. Nach der Beschreibung, die uns heute früh gemacht wurde, müssen wir bald am Ziel sein. Schau, kommt dort nicht ein Reiter?“
Frank deutete nach rechts über das Wasser hinüber. Bob hielt sein Pferd an, legte die Hand über die Augen, um sie gegen die im Westen tief stehende Sonne zu beschatten, öffnete nach seiner Weise weit den Mund, als könnte er so noch besser sehen, und antwortete nach einer Weile: „Ja, es sein ein Reiter, ein kleiner Mann auf großem Pferd. Er kommen hierher zu Masser Bob und Massa Frank.“
Der Reiter, von dem die Rede war, kam in scharfem Trab herbei, hielt aber nicht auf die beiden zu, sondern schien vor ihnen ihren Weg kreuzen zu wollen. Er tat gar nicht so, als sehe er sie.
„Sonderbarer Kerl!“, brummte Frank. „Hier im Wilden Westen ist man doch froh, auf einen Menschen zu treffen. Dem da scheint aber gar nichts an unserer Begegnung zu liegen. Entweder ist er ein Menschenfeind oder er hat kein gutes Gewissen.“
„Soll Masser Bob ihn einmal anrufen?“
„Ja, rufe ihn an! Deine Elefantentrompete wird er eher hören als mein Zephyrsäuseln.“
Bob hielt beide Hände hohl an den Mund und schrie aus vollem Hals: „Hallo, hallo! Halt, warten! Warum ausreißen vor Masser Bob?“
Der Neger hatte allerdings eine Stimme, die geeignet war, einen Scheintoten ins Leben zurückzubringen. Der Reiter zügelte sein Pferd. Die beiden beeilten sich, zu ihm aufzuholen.
Als sie in seine Nähe gelangten, erkannten sie, dass sie nicht etwa einen Mann von kleinem Wuchs, sondern einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling vor sich hatten. Er war wie die kalifornischen Cowboys ganz in Büffelkuhleder gekleidet, und zwar in der Weise, dass alle Nähte mit Fransen versehen waren. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Sombrero. Eine rotwollene Schärpe umschlang statt des Gürtels seine Hüften und hing an der linken Seite herab. In dieser Schärpe steckten ein Bowiemesser und zwei mit Silber ausgelegte Pistolen. Quer vor sich auf den Knien hielt er eine schwere, doppelläufige Kentuckybüchse und vorn zu beiden Seiten des Sattels waren nach mexikanischer Weise Schutzleder angebracht, um die Beine gegen Pfeilschüsse oder Lanzenstöße zu decken.
Sein Gesicht war von der Sonne tief gebräunt und trotz seiner Jugend von Wind und Wetter gegerbt. Von der linken Seite der Stirn ging ihm eine blutrote, zwei Finger breite Wulst quer bis auf das rechte Auge herab. Das gab ihm ein äußerst kriegerisches Aussehen. Überhaupt machte er keineswegs den Eindruck eines jungen, unerfahrenen Menschen. Die schwere Büchse leicht in der Hand, als sei sie ein Federkiel, das dunkle Auge groß und voll auf die beiden gerichtet, saß er stolz und fest wie ein Alter auf dem Pferd.
„Good day, my boy!“, grüßte Frank. „Seid Ihr in dieser Gegend bekannt?“
„Rather – ziemlich“, erwiderte der Reiter, indem er ein leises, ironisches Lächeln sehen ließ, wohl darüber, dass der Frager ihn Knabe genannt hatte.
„Kennt Ihr Helmers’ Home?“
„Yes!“
„Wie lange reitet man noch bis dahin?“
„Je langsamer, desto länger.“
„Zounds! Ihr seid kurz angebunden, mein Junge!“
„Weil ich kein Mormonenpfarrer bin.“
„Ach so! Dann entschuldigt! Ihr zürnt mir wohl, dass ich Euch Boy genannt habe?“
„Fällt mir nicht ein. Mit der Anrede mag es ein jeder halten, wie er will, nur muss er sich dann auch meine Antwort gefallen lassen.“
„Schön! Wir sind also einig. Ihr gefallt mir. Hier ist meine Hand, aber antwortet mir nun, wie es sich schickt und gehört! Ich bin hier fremd und muss nach Helmers’ Home. Hoffentlich zeigt Ihr mir nicht einen falschen Weg.“
Frank reichte dem Jüngling die Hand hinüber. Der junge Mann drückte sie ihm, überflog Frack und Amazonenhut mit einem lächelnden Blick und erwiderte: „Ein Schuft, wer andere in die Irre führt! Ich reite soeben nach Helmers’ Home. Wenn ihr mir folgen wollt, so kommt!“
Damit setzte er sein Pferd wieder in Bewegung und die beiden folgten ihm, vom Bach abbiegend, sodass der Ritt nunmehr nach Süden ging. „Wir wollten dem Wasser nachreiten“, bemerkte Frank.
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