Standort und Perspektive
Geschichtsschreibung ist immer kontextgebunden und perspektivisch. Sie wird immer vom Standort der Betrachtenden aus erzählt. Das gilt für die moderne Geschichtsschreibung und ihre akademischen Ausformungen im Wissenschaftsbetrieb ebenso wie für den Umgang mit Vergangenheit in der Überlieferung selbst. Da wie dort werden Teile dieser Standortgebundenheit reflektiert, andere fließen unbewusst oder zufällig in die Überlieferung ein. Die Wahl eines Standorts aber ist Voraussetzung für die Konstruktion der Perspektive. Wie bei jeder Wahl einer Perspektive werden dabei manche Phänomene weniger beleuchtet als andere oder geraten an den Rand des Blickfelds.
In diesem Buch dient der Standort Wien zwar nicht als Zentrum, aber sehr wohl als einer von mehreren Ausgangspunkten der Betrachtung (→ Kap. 1.3). Diese Wahl hat gewiss mit unserer akademischen Verortung zu tun. Diese allein würde das Vorgehen aber nicht rechtfertigen. Wer eine südöstliche Perspektive auf das europäische Mittelalter wählt, kommt an der Bedeutung Wiens für die Forschungsgeschichte nicht vorbei. Diese wird im ersten Kapitel genauer erläutert. Hier nur so viel: Für Generationen von Mediävisten und Mediävistinnen, die sich mit dem skizzierten Zeit-Raum befassten, war Wien seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Ort der Ausbildung, Anregung, aber auch der politischen Reibung. Polen, Tschechen und Ungarn, besonders aber Serben, Bulgaren, Albaner und Rumänen, Kroaten und Slowenen studierten in Wien – Frauen waren allerdings erst ab 1897, und zunächst nur an der philosophischen Fakultät zum Studium zugelassen – und nahmen wichtige Anstöße mit in ihre Herkunftsgebiete, wo sie in den politischen, sozialen und religiösen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt wurden.
Im Rahmen des – trotz zunehmender nationaler Konflikte – ganz Europa umfassenden Geflechts von wissenschaftlichen Kontakten und Formen des Austausches war Wien keinesfalls der einzige Bezugspunkt der akademischen Eliten aus den genannten Ländern: Berlin, [<<24] Leipzig und Paris zogen ebenfalls und oftmals mehr Studierende aus Mittel- und Südosteuropa an als Wien. Die Wahl eines anderen Standorts als Ausgangspunkt wäre daher ebenso legitim wie möglich; sie wurde in entsprechenden wissenschaftshistorischen Fallstudien auch getroffen. Für die hier in den Blick genommenen Räume und ihre Entwicklung war allerdings Wien einer der wichtigsten Zentralorte der europäischen Mittelalterforschung.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kann eine Geschichte der Überlieferung daher im doppelten Sinn nicht „unschuldig“ sein. Sie muss immer danach fragen, was von konkreten Quellen erwartet werden darf – in ihrem spezifischen historischen Kontext, mit ihren Chancen auf Überlieferung, aber auch durch Zufälle, welche sie vielleicht wider Erwarten bewahrt haben. Gleichzeitig müssen sich Historikerinnen und Historiker ebenso ihrer eigenen Erwartungshaltungen bewusst sein. Nicht einmal die „ideale“ Überlieferungslage bildet Geschichte ab, denn die Quellen sprechen nur, wenn man Fragen an sie richtet, und von den Fragen hängen ihre Antworten ab. Umgekehrt haben die Quellen gemäß einem berühmten Diktum von Reinhart Koselleck ein „Vetorecht“: Historische Interpretationen dürfen nicht „gegen“ die Überlieferung oder an ihr vorbei erfolgen. Was zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht eine wissenschaftstheoretische Selbstverständlichkeit ist, war gerade hinsichtlich der Geschichte der wissenschaftlichen Quellenerschließung und -bearbeitung lange keine.
Die ungeheuer verdienstvollen monumentalen Quellensammlungen, -editionen und -dokumentationen des 19. und 20. Jahrhunderts, die vielfach bis heute die Basis historischen Arbeitens darstellen, dienten gleichzeitig maßgeblich der Konstruktion und Legitimation jener entstehenden Nationalstaaten, in deren Kontext sich auch die akademischen Wissenschaften entwickelt haben. Dementsprechend wurde die Objektivität der Überlieferung zuweilen für scheinbar unparteiische, oft jedoch auch für offen politische Zwecke nachdrücklich bemüht.
Aber auch Geschichtsregionen, die bewusst nationale Grenzen überschreitend gedacht werden, entstehen als historische Konstrukte in einem Kontext, dessen außerwissenschaftliche Dimension verdeutlicht werden muss. Die Konstruktion historischer Räume – ob nun Nationalstaaten, deren Geschichte weit in die Vergangenheit projiziert wird, oder Großregionen wie Mittel- und Südosteuropa – [<<25] kann als Akt wissenschaftlicher und auch politischer Machtausübung verstanden werden.
„Mittel“- und „Südosteuropa“: eine überlieferungsgeschichtliche Perspektive
Der Begriff „Südosteuropa“ etwa wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Wiener Slawisten, Geographen und Diplomaten entwickelt und diente der räumlich-kulturellen Strukturierung der an das Habsburgerreich angrenzenden europäischen Provinzen des damaligen Osmanischen Reichs. In dieser Region verfolgte die Donaumonarchie bis zu ihrem Ende 1918 weitreichende außenpolitische Interessen. Außenpolitik und historische Forschung verliefen oft parallel, bisweilen in Personalunion repräsentiert von Historiker-Diplomaten. In der so konstruierten Region wurde der Begriff „Südosteuropa“ im 20. Jahrhundert als neutralere Begriffsvariante zum oftmals als negativ belastet empfundenen Terminus „Balkan“ verwendet und schließlich in die Begrifflichkeit der Vereinten Nationen aufgenommen. Der Blick von außen und die Wahrnehmung von innen können in einer derart konstruierten Geschichtsregion durchaus konvergieren, sie müssen es aber nicht.
Ähnliches gilt für den Begriff „Mitteleuropa“, der im Ersten Weltkrieg den Expansionsraum der verbündeten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn umschrieb, aber auch zur Erfassung der kulturell vielfältigen Gebiete des Heiligen Römischen Reichs verwendet werden kann. Umso wichtiger ist es, beide Blickweisen sichtbar zu machen. In diesem Buch geschieht dies auch dadurch, dass Autorinnen und Autoren sowohl aus den Ländern unseres Betrachtungsraumes wie auch außerhalb desselben zu Wort kommen. Geschichtsräume sind nicht statisch; auf ihre möglichen ideologischen Konnotationen ist hinzuweisen. Sie sind aber sinnvolle räumliche Betrachtungseinheiten, die helfen, die weit anachronistischere Konstruktion vermeintlich linearer Nationalgeschichten zu vermeiden.
Aktualität des Mittelalters
Ein Wort noch zu den gegenwärtigen Bedeutungen des „Mittelalters“ in diesem Raum: Sie sind, wie vieles in unserer Betrachtungseinheit, nicht auf einen schlichten Nenner zu bringen. Mittelalterwellen, Mittelalternostalgie, sommerliche Turnieraufführungen und Computerspiele zu mittelalterlichen Themen dominieren im Westen unseres Betrachtungsraumes. In vielen Gesellschaften Südosteuropas besitzt die Epoche bis in die Gegenwart aber auch eine politische Dimension: Die Begründung von Eigenstaatlichkeit und Gebietsansprüchen wird aus [<<26] der mittelalterlichen Geschichte abgeleitet, ebenso wie Vorstellungen nationaler Größe und nationaler Selbstvergewisserung. Mittelalterliche Geschichte findet also nicht nur zwischen oftmals trivialisiert-kommerzialisierter Verwendung und wissenschaftlicher Forschung statt, sondern ist auch Teil eines politischen Feldes. Daher widmen wir uns im ersten Kapitel dieses Buches etwas ausführlicher einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung der Mediävistik in diesem Raum.
Aufbau der Darstellung
Die diesem ersten wissenschaftshistorischen Kapitel folgenden drei Abschnitte verschränken chronologische, geographische und soziale wie kulturelle Aspekte der Überlieferung. Vor dem Hintergrund der soeben umrissenen Periodisierungsprobleme folgen sie erstens pragmatisch einer groben zeitlichen Gliederung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, die in der deutschsprachigen Mediävistik üblich ist. Die breite räumliche Perspektive macht den Charakter einer solchen Einteilung nur als Hilfsmittel zur Orientierung – und nicht mehr – besonders deutlich.
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