Arnold Esch, Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers. In: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570.
Nach Überlieferungschancen und -zufällen zu fragen, bedeutet herausfinden zu wollen, warum wir über die Vergangenheit wissen, was wir wissen, welche Bausteine uns fehlen und inwieweit es möglich ist, sie zu rekonstruieren. Fragen nach der Überlieferung führen also direkt zu grundsätzlichen Überlegungen, wie historisches Wissen entsteht, auf welchem Material es beruht, welche Ereignisse oder Gegebenheiten überhaupt eine Chance hatten, der Nachwelt überliefert zu werden, aufgrund welcher Forschungsinteressen und -fragen Quellen gesucht und gefunden, in bestimmte Kategorien eingeteilt, bewertet und gewichtet wurden. Die Typologien für die Einteilung historischer Überlieferung sind vielfältig. Sie orientieren sich an Material und Medien (Sprache und Texte; Bilder, Münzen und Siegel; Architektur), an ihrem Inhalt (z. B. rechtlich, erzählend), an Intentionen (z. B. Hagiographie, Historiographie) und Funktionen (z. B. Wirtschafts- oder liturgische Quellen). Solche Kategorien sind ihrerseits Werkzeuge und gleichzeitig Produkte der Arbeit unterschiedlicher akademischer Fachdisziplinen und ihrer Gegenstände. So notwendig sie epistemologisch wie methodologisch sind, so sehr sind die Grenzen einzelner „Quellengattungen“ in der Praxis der Überlieferung wie in der wissenschaftlichen Arbeit fließend. Es geht uns also auch darum, die Ordnungskriterien und -kategorien der Beschreibung historischer Überlieferung in ihrem räumlichen und zeitlichen Kontext zu differenzieren und zu zeigen, wie Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft, aber auch ihrer Nachbardisziplinen arbeiten, um zu historischer Erkenntnis zu gelangen. [<<17]
Vergleichen
Dabei wollen wir weder eine „Quellenkunde“ traditionellen Zuschnitts verfassen noch einen Katalog der klassischen hilfswissenschaftlichen Methoden zusammenstellen. Für beides gibt es gerade in der deutschsprachigen Mediävistik ausgezeichnete Handbücher, die in der Bibliographie angeführt sind und auf die auch in den einzelnen inhaltlichen Kapiteln gezielt hingewiesen wird.
Die gesamte Bibliographie steht frei zum Download zur Verfügung. Informationen unter http://www.utb-shop.de/downloads. QR-Code als Direktlink.
Vielmehr geht es uns um einen möglichst konkreten Einblick in das wissenschaftliche Arbeiten an und mit historischen Quellen in spezifischen Überlieferungszusammenhängen. Das Buch folgt also einer problem- und praxisorientierten Perspektive, die durch unsere eigene Lehr- und Forschungspraxis motiviert ist: Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts zum Thema Visions of Community. Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism (400–1600 CE) vergleichen wir unter anderem Gemeinschaftsvorstellungen in unterschiedlichen sozialen Milieus Mittel- und Südosteuropas. Dabei zeigten sich sowohl viele Gemeinsamkeiten als auch grundlegende Unterschiede der Überlieferung.
Vergleichen gehört zu den zentralen Bestandteilen der historischen Methode. Es erhöht nicht nur das Verständnis für das „Andere“, sondern schafft oft erst die dafür notwendige Wissensbasis. Darüber hinaus schärft eine vergleichende Perspektive auch den Blick für Brüche, Ausnahmen und Besonderheiten innerhalb des eigenen (nur scheinbar bekannten) Gegenstandes. Vieles, was gegenwärtig unter der Überschrift „Globalisierung“ verstärkt aus dieser Perspektive diskutiert wird, lässt sich am Beispiel Mittel- und Südosteuropas anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im räumlichen Vergleich herausarbeiten.
Raum und Zeit
Ähnlich wie die Kriterien der Einteilung historischer Überlieferung sind auch räumliche und zeitliche Abgrenzungen wissenschaftliche Konstruktionen, die auf bestimmten, mehr oder weniger begründeten Konventionen beruhen. Raumkonstruktionen und zeitliche Periodisierungen haben ihre jeweils eigenen Geschichten. Gleichzeitig sind sie auf komplexe Weise miteinander verschränkt. Historische [<<18] Periodisierungen bilden bestimmte Ausschnitte der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart ab. Dabei sind Wahrnehmungen zeitlicher „Epochen“ maßgeblich durch den Blick auf bestimmte räumliche Abgrenzungen mitbestimmt, und umgekehrt.
„Zeit“ und „Raum“ als zentrale Dimensionen historischer Betrachtung und ihre Abgrenzungen sind nicht erst seit den Anfängen moderner Wissenschaft Gegenstand von fachlichen Debatten, die zudem weit über den engeren Bereich der Wissenschaft hinausreichen und immer auch politische Implikationen haben. Die Abgrenzung von „Mittelalter“ – ein Begriff, der in der europäischen „Renaissance“ erfunden wurde – und „Moderne“ etwa hat viel mit den jeweils aktuellen Vorstellungen von historischem bzw. gesellschaftlichem Fortschritt und der Kritik daran zu tun – wie sie wiederum in Gegenbegriffen, etwa dem der „Post-Moderne“, zum Ausdruck kommen.
Vergleichbares gilt für Raumbegriffe, deren Diskussion besonders dann an Aktualität gewinnt, wenn sie und die mit ihnen verbundenen Bilder in Frage stehen. Räume operieren mit Grenzen, und Grenzen schließen ebenso ein wie aus. „Europa“ selbst ist angesichts der politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ein eindrucksvolles Beispiel für derartige Diskussionsprozesse, die in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Debatten ihren Niederschlag finden.
„Mittel“- und „Südosteuropa“
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehören die titelgebenden Begriffe dieses Buches, „Mittel-“ und „Südosteuropa“ zu jenen Raumbegriffen, um deren Verwendbarkeit, Bedeutung und genaue Verortung im Raum seit dem 19. Jahrhundert intensiv und bisweilen auch erbittert gerungen wurde. Sie sind im Laufe unterschiedlicher Phasen der Wissenschaftsgeschichte nicht weniger umstritten gewesen als „Zentraleuropa“, „Ostmitteleuropa“ und andere Bezeichnungen, die wesentliche Teile unseres Betrachtungsraumes markieren.
Diese wichtigen Diskussionen zeigen, dass Zeit- und Raumbegriffe, die Kategorien zur Wahrnehmung der Welt darstellen, weder in der Geschichte vorfindlich noch „unschuldig“ sind: Weder ergeben sie sich „einfach“, etwa durch Ereignisse oder geographische Gegebenheiten, noch bilden sie fest gefügte Einheiten – weder abgeschlossene Epochen noch Räume, die man sich wie Container vorstellen könnte. Vielmehr sind sie in einem dichten Geflecht wissenschaftlicher Konventionen, politischer Rahmenbedingungen und unterschiedlich motivierter [<<19] Entscheidungen von Autorinnen und Autoren entsprechender Darstellungen verortet, die alle zusammen ihren Gebrauch prägen.
Es ist nicht Gegenstand dieses Buches, die Debatten um diese Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen im Detail zu referieren, zumal gerade in den vergangenen Jahren zu ihren einzelnen Aspekten eine Fülle von erstklassigen Darstellungen entstanden ist. Dazu bietet etwa die Darstellung von Nora Berend, Przemysław Urbańczyk und Przemysław Wiszewski, Central Europe in the Middle Ages: Bohemia, Hungary, and Poland, c.900–c.1300 (Cambridge 2013) einen vorzüglichen Überblick.
Eine neue Perspektive
Im Falle unseres Buches geht es vielmehr darum, eine mittelalterliche Überlieferungsgeschichte in Europa aus einer – wie wir denken – neuen räumlich vergleichenden Perspektive zu erzählen. Deutschsprachige Einführungen in die Geschichte mittelalterlicher Überlieferung orientieren sich vielfach entlang einer Nord-Süd-Achse: Im Zentrum stehen das Heilige Römische Reich und Italien. Daneben tritt eine Verlängerung nach Westen, die Frankreich und auch England umfasst. Eher am Rande des Interesses bleiben in der Regel die iberische Halbinsel und Skandinavien ebenso wie die Gebiete östlich der Reichsgrenzen. Dabei ist zu differenzieren: Böhmen wird oft im Zusammenhang des Reichs betrachtet. In den letzten Jahrzehnten wurden auch Polen und das Baltikum in ihren Bezügen zum Reich und im Sinne einer Ostseegeschichte verstärkt in den Blick genommen. Was südöstlich der Reichsgrenzen liegt, bleibt hingegen meist terra incognita.
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