Dieses Unfallerleben spiegelt sich auch in einem der Alpträume, von denen Herr R. seither regelmäßig nachts heimgesucht wird und aus denen er schweißgebadet erwacht. Es rasen zwei Autofahrer aufeinander zu, aber, wie der Proband sagt, „normal“, d. h. ohne ein Überlebenstraining in brenzligen Verkehrssituationen. Der Patient sieht wie in Großaufnahme den Motor des gegnerischen Fahrzeugs auf sich zukommen: „Ich sehe den Motor, sehe mich blutüberströmt, den anderen auch, wie wenn ich über der ganzen Sache schweben würde; dann werde ich plötzlich hellwach, habe Kopfweh bis zu Sehstörungen, zittere, stehe auf und kann mich erst beruhigen, wenn meine Frau in der Nähe ist.“
Die Symptome des Kopfschmerzes und der Sehstörung, die im Traum vorkommen, hatten sich auch in Wirklichkeit unmittelbar nach dem Unfall eingestellt. Der Kopfschmerz hatte sich mit der Zeit bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Die Sehstörung bestand in Doppeltsehen und führte dazu, dass der Proband sich optisch zeitweise nicht mehr orientieren konnte. Um die sich ebenfalls steigernde Angst vorm Autofahren zu überwinden, zwang er sich zeitweise, auch unterstützt durch eine Verhaltenstherapie, zu größeren Fahrten, wurde aber durch das Doppeltsehen und die Kopfschmerzen so sehr behindert, dass er nur etwa 10 km pro Stunde zurücklegen konnte.
Untersuchungsergebnisse. Bei der neuropsychologischen Untersuchung ergab sich vor allem ein Defizit im nichtverbalen Kurzzeitgedächtnis, erfasst u. a. mit dem „Recurring-Figures-Test“, das auf eine Beeinträchtigung der frontokortikalen Funktionen verweist. Dieses Teilergebnis fiel aus dem sonstigen intraindividuellen Leistungsniveau des Probanden heraus. Aber auch einige andere Merkmale lagen im unteren Grenzbereich. Das Ergebnis war insgesamt typisch für den Residualzustand nach einem Schädel-Hirn-Trauma, wie er nach den mittlerweile vergangenen 3 Jahren zu erwarten war. Es legt aber auch nahe, dass die kognitiven Funktionen unmittelbar nach dem Unfall erheblich stärker beeinträchtigt waren. Diese Annahme deckt sich mit der Selbstschilderung des Probanden. Bei seinen Klagen über Orientierungsschwierigkeiten im Straßenverkehr erwähnte er, dass ihm „alles zu schnell“ gehe, er nicht mitkomme usf. Solche Klagen sind für Patienten typisch, die unter Störungen der Konzentration und des visuellen Kurzzeitgedächtnisses leiden. Herr R., der gewohnt war, schwierige Situationen durch Energie, Entschlossenheit und Tatkraft zu meistern, konnte sich auf seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht mehr verlassen. Dies hat sicherlich zur weiteren Verunsicherung des Patienten beigetragen, zu depressiven Selbstzweifeln an seiner Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden.
Auch unter psychotraumatologischen Gesichtspunkten ergab sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der nachfolgenden Angstsymptomatik und dem konkreten Unfallgeschehen. Angstauslösend im Straßenverkehr waren für Herrn R. in der postexpositorischen Zeit entgegenkommende Lastwagen. Es wiederholte sich in den fortbestehenden Ängsten also die Unfallsituation, als hinter dem Lastwagen, bis dahin unsichtbar, plötzlich der entgegenkommende Wagen hervorkam. Der Umstand, dass Herr R. sich nur noch symbolisch mit dem rechten Fuß gegen den „Abgrund“, gegen die Gefahr stemmen konnte, in den viel tiefer gelegenen Fluss zu fallen, kehrt in der Angst auf Leitern und erhöht gelegenen Positionen wieder, unter denen der Proband ebenfalls leidet. Wenn er auf einer Leiter steht, muss er sich mit dem rechten Fuß und dem Bein gegen irgendeinen Halt stützen, um die Angst einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Auch kann er sich auf diesen Erhöhungen nur halten, wenn er das rechte Gesichtsfeld abdeckt, beispielsweise mit einer klebenden Binde, als müsste er sich auch hier gegen den Sturz in den Abgrund absichern, wie er beim Unfall beinahe geschehen wäre. Ein deutlicher Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen liegt ferner im Inhalt des zuvor geschilderten Alptraums. Dieser stellt dar, was hätte geschehen können, wenn Herr R. nicht dem Unfallgegner geistesgegenwärtig und trainiert ausgewichen wäre. Auch die Dissoziierung von Körper und Geist, das „über der Sache schweben“, wie es im Traum geschieht, gehört zu den traumakompensatorischen Mechanismen in einer lebensbedrohlichen Belastungssituation.
Der wiederkehrende Alptraum mit seinem deutlich auf den Unfall bezogenen Inhalt ist zugleich eines der Kriterien des bPTBS. Das erste der vier Kriterien, das außergewöhnliche, evtl. lebensbedrohliche Ereignis ist mit dem Unfall gegeben. Auch das zweite, intrusive Erinnerungsbilder, trifft auf Herrn R. zu. Er erlebt wiederkehrende, eindringliche, belastende Erinnerungen an das Ereignis und wiederkehrende, erschreckende Träume, in denen das Unfallgeschehen sogar noch bedrohlicher als in der Realität erscheint.
Kriteriengruppe drei erfasst das dauerhafte Vermeiden von Reizsituationen, die mit dem Trauma verbunden sind (avoidance, denial). Zumindest drei Symptome finden sich bei Herrn R. Er versucht, Gedanken oder Gefühle zu vermeiden, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Er bemüht sich, Handlungen oder Situationen zu vermeiden, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Er hat eine depressiv gefärbte, gegenüber dem vortraumatischen Zustand veränderte Zukunftsperspektive.
Die vierte Kriteriengruppe umfasst Symptome erhöhter Schreckhaftigkeit und Erregbarkeit vs. emotionale Abstumpfung. Hier zeigt Herr R. vier Symptome der ersten Teilgruppe, nämlich Einschlafschwierigkeiten, Irritierbarkeit und Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhte Schreckhaftigkeit. Die meisten dieser Symptome wurden bereits in dem Erlebniszusammenhang beschrieben, in dem sie während des Interviews vom Probanden erwähnt wurden.
Aufgrund der Exploration und des Interviews trifft auf Herrn R. die Diagnose „chronifiziertes PTBS“ zu. Diese Diagnose wurde auch unterstützt durch die Ergebnisse der Impact of Event Scale (IES, Horowitz et al. 1979). In der angewandten Version wurden zwei der Traumadimensionen erfasst: Intrusion und Verleugnung (Hütter und Fischer). In beiden weist das Testergebnis von Herrn R. Höchstwerte auf; 27 von 28 möglichen Punkten in der Dimension „Intrusion“ und 28 von 32 möglichen Punkten in „Avoidance-Denial“.
Diagnose. Chronifiziertes psychotraumatisches Belastungssyndrom (im Sinne von DSM und ICD) infolge eines unverschuldeten Verkehrsunfalls. Ein Schwerpunkt der Symptomatik liegt im Bereich phobischer und depressiver Reaktionen. Es besteht ein neuropsychologisches Residualsyndrom nach unfallbedingtem Schädel-Hirn-Trauma mit symptomatischem Schwerpunkt im Bereich des nichtverbalen Kurzzeitgedächtnisses.
Ein unbewusster Konflikt, der schon aus der Kindheit stammt und durch den Unfall lediglich reaktiviert worden wäre, besteht bei Herrn R. nicht. Zumindest ist in der prätraumatischen Vorgeschichte kein Hinweis zu erkennen auf eine Kindheitsneurose oder bedeutsame Störungen der Kindheits- oder Erwachsenenentwicklung. Der Fall von Herrn R. weist jedoch verschiedene Risikofaktoren für ein chronisches PTBS auf, wie sie auch in einem anderen Bereich der speziellen Psychotraumatologie, nämlich bei Opfern von Gewaltverbrechen, festgestellt wurde. Zu diesem Ergebnis kommen Untersuchungen im Rahmen des Kölner Opferhilfe Modellprojekts (KOM; Fischer et al. 1998), welches das Deutsche Institut für Psychotraumatologie als gemeinnütziger Verein zusammen mit der Universität Köln und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein Westfalen betreibt. Die Risikofaktoren sind durch einige situative und lebensgeschichtliche Merkmale bestimmt, die möglicherweise auch auf Unfallpatienten zutreffen. Dazu gehören:
Subjektives Erleben von Todesangst bzw. von → Todesnähe; ungünstige postexpositorische Erfahrungen, wie sie Herr R. zum Beispiel mit dem Unfallgegner und der gegnerischen Versicherung machen musste; starke peritraumatische Dissoziationstendenzen (Lebensfilm, Schweben über dem Unfallgeschehen); traumatische Vorbelastungen in der Lebensgeschichte. Ein weiteres Merkmal, eine relativ lange zeitliche Erstreckung der traumatischen Situation, das vor allem bei den Opfern von Gewaltverbrechen prognostisch diskriminiert, war bei Herrn R. nicht gegeben.
Читать дальше