Mit dem Kriterium einer lebensgeschichtlich vorausgehenden Traumatisierung kommen wir zurück auf die Erinnerung an die Bombennacht des etwa vierjährigen Jungen, die bezeichnenderweise ganz am Anfang des „Lebensfilms“ in der Erinnerung wieder auftaucht. Der Proband war mit seiner Mutter aus der bombardierten Stadt geflohen, hatte die Zerstörung der Häuser und den Tod von Menschen erlebt und möglicherweise auch damals schon Todesangst empfunden, zumindest aber eine „Erschütterung“ seines „Selbst- und Weltverständnisses“ im Sinne unserer Definition des Traumas, eine tief greifende Verunsicherung, gegen die er möglicherweise kompensatorisch eine sehr aktive Lebensform entwickelt hatte, wie aus der Anamnese zu entnehmen war. Als ältester Sohn hatte er sich in besonderer Weise für die Mutter und die jüngeren Geschwister verantwortlich gefühlt, eine Haltung, die er später auf seine Frau und die eigene Familie übertrug. Das → traumakompensatorische Schema besteht also in der ständigen Bemühung um Schutz und Fürsorge für andere, eine Lebensform, die durch die dem Unfall folgende eigene → Hilflosigkeit abrupt blockiert wurde. Alles kompensatorische Bemühen kann nicht verhindern, dass die völlig unvorhersehbare Lebensbedrohung wiederkehrt. In sehr eindrucksvoller Weise tritt im peritraumatisch dissoziierten → Traumaschema daher die Kindheitsbedrohung als erste Erinnerung im „Lebensfilm“ wieder auf. Allerdings versagen im Nachhinein die gewohnten kompensatorischen Mechanismen. Herr R. bemüht sich verzweifelt, seine berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen, wird jedoch durch die anhaltenden Störungen daran gehindert und überfordert sich hoffnungslos. Das → ZTST besteht demnach darin, eine vergleichbare, dem Traumaschema assimilierte Bedrohung erleiden zu müssen, ohne jedoch für das aktive, geistesgegenwärtige Verhalten Anerkennung zu finden und ohne den Ausweg einer Kompensation durch Arbeit und Leistung, der wiederum Schutz und Sicherheit (für andere) garantiert. Der Zusammenbruch der bisherigen kompensatorischen Mechanismen ist die zentrale „Bruchstelle“ in der Dynamik des Traumageschehens. Sie ist allerdings auch der Ansatzpunkt für die therapeutische Intervention, die aber leider nicht sehr effektiv gewesen zu sein scheint.
Die letzten Ausführungen greifen auf einige Konzepte vor wie → Traumaschema, die in späteren Abschnitten ausführlich entwickelt werden. Eine Verständnishilfe ist über das Glossar möglich.
Einige allgemeinere Bemerkungen möchten wir noch zu dem evtl. „vorbestehenden Konflikt“ bei Herrn R. machen, wonach das Gericht in diesem Gutachtenfall in folgender Formulierung fragt: „Ist der Unfall nur eine seinem Wesen nach auswechselbare Ursache, nur ein Kristallisationspunkt, der unbewusst zum Anlass genommen wird, sich der Verantwortung für die eigene Lebensführung insofern zu entziehen, als (der Proband) sich den Belastungen des Erwerbslebens nicht mehr zu stellen braucht? Oder dazu, andere latente innere Konflikte zu kompensieren?“
Mit seiner Diagnose einer „unfallreaktiven Somatisierungsstörung“ nach Rudolf hatte einer der Gutachter diese Frage des Gerichts positiv entschieden, ohne allerdings den Konflikt inhaltlich zu benennen. Hier zeigt sich u. E. eine Gefahr bei der Verwendung des Konfliktbegriffs, die möglicherweise auch mit der Terminologie des „Aktualkonflikts“ für die „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD) verbunden ist (zur Diskussion vgl. Heuft et al. 1997). Der „Konflikt“ verselbständigt sich zu einer Entität, die ein schwer überschaubares Eigenleben gewinnt, und die traumatische Erfahrung reduziert sich parallel dazu auf einen mehr oder weniger „beliebigen Anlass“, konfliktuöse „Wünsche“ zu befriedigen. Dieser Fall ist natürlich vorstellbar, müsste aber besonders diagnostiziert werden. Die Verwendung des Konfliktbegriffs kann verwirren. Unsere oben entwickelte psychotraumatische Rekonstruktion zeigt eine davon unterschiedliche Verbindung von traumatischer Vorbelastung und aktuellem Trauma. Die aktuelle traumatische Erfahrung erscheint hier nicht als mehr oder weniger „beliebiger“ Anlass zur Aktualisierung eines latenten Konflikts. Sie wirkt im Gegenteil durch ihre assimilative Ankopplung an das frühere Traumaschema, wie der „Lebensfilm“ bei Herrn R. eindrucksvoll zeigt. Stammt das Traumaschema aus der Kindheitserfahrung, so wird es sich oft als besonders „akkommodationsresistent“ erweisen, was beispielsweise die fortschreitende Generalisierung und Ausbreitung der Phobie bei Herrn R. erklären kann. Es ist, als würde das Selbst nachträglich feststellen: „Deine lebenslange Flucht vor jener Hilflosigkeit und Bedrohung, der du schon als Kind ausgesetzt warst, war vergebens. Jetzt hat dich das eingeholt, was du immer vermeiden wolltest.“
Die lebensgeschichtliche Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung in einer spezifisch psychotraumatologischen Begrifflichkeit und Dynamik kann also die Wirkung einer aktuellen traumatischen Situation auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte verständlich machen, ohne sie auf einen mehr oder weniger beliebigen „Anlass“ zu reduzieren. Das Konfliktkonzept bei Rudolf und in der OPD steht in der Gefahr, die Kontinuität der lebensgeschichtlichen Erfahrung zu unterschätzen und könnte den Anschein einer relativ beliebigen Verknüpfung von Aktualtrauma und Lebensgeschichte fördern, wie er in der kritischen Frage des Gerichts bei Herrn R. zum Ausdruck kommt.
Auch juristisch besteht hier natürlich ein bedeutsamer Unterschied. Wird das Trauma „unbewusst zum Anlass genommen“, sich einer Verantwortung zu entziehen, so besteht wenig Grund zu einer Kompensationsleistung und Unterstützung für das Opfer. Lässt sich mit einer geeigneten Heuristik hingegen ein direkter Zusammenhang zwischen traumatischer Vorbelastung und Aktualbelastung aufzeigen, vermittelt über das → ZTST und den Punkt → maximaler Interferenz, so besteht kein Anlass, die verantwortliche Instanz von Schadensersatzansprüchen zu entlasten. Um eine somatische Metapher zu verwenden: Wenn sich jemand bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall ein Bein bricht, das schon zuvor einmal gebrochen war, so wird kaum jemand auf die Idee verfallen, wegen seiner „Vorschädigung“ das Opfer verantwortlich zu machen und den Verursacher von Kompensationsleistungen zu entlasten. Im psychologischen Bereich kann die sog. „Vorschädigung“ allerdings zu solchen Konsequenzen führen, sobald sie nämlich unscharf gefasst oder so ausgedehnt wird, dass das aktuelle Trauma als lediglich akzidenteller Auslöser für eine bereitliegende Disposition, ev. sogar eine unbewusste Absicht des Opfers zur Selbstschädigung verstanden wird. Auch wenn es derartige Fälle gibt, so sollten Diagnosen doch in einer Begrifflichkeit ausgeführt werden, die den Unterschied zwischen der situationsabhängigen Ausbildung und lebensgeschichtlichen Kontinuität von Traumaschemata einerseits und einem „Konflikt“ im Sinne einer situationsunabhängigen Persönlichkeitsdisposition andererseits hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt.
2 Situation, Reaktion, Prozess – ein Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung
Bisher sind einige grundlegende Fragen, wie z. B. nach einer Definition von Trauma zwar angeklungen, aber nicht systematisch behandelt worden. Solche Fragen sind für das Verständnis von psychischer Traumatisierung und eine Wissenschaft Psychotraumatologie natürlich elementar. Manche der Fragen, die wir hier diskutieren, haben eine philosophische Dimension. Wer nicht gewohnt ist, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, wird vielleicht befremdet sein, derartige Überlegungen in einem wissenschaftlichen Lehrbuch anzutreffen. Allerdings konfrontiert uns das Trauma selbst mit fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz und des Werterlebens. Von daher sollten wir philosophischen Problemen nicht ausweichen, auch wenn der Weg manchmal mühsam ist, uns das, was wir im Alltagsleben wissen, ohne zu wissen, dass wir es wissen, auch explizit vor Augen zu führen. Denn ein solches „Metawissen“(= Wissen über Wissen oder Wissen zweiten Grades) ist das Ziel philosophisch-psychologischer Bemühungen. Es ist aber auch, wie sich noch zeigen wird, eine wesentliche Dimension im Umgang mit dem Trauma.
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