Eine erste solche Frage stellt sich, wenn wir nach dem Begriff des Traumas fragen. Ist „Trauma“ nun eigentlich ein Ereignis oder ein Erlebnis? Handelt es sich um eine subjektive oder eine objektive Kategorie? Der Terminus „post-traumatische“ Belastungsstörung in den gegenwärtigen Diagnostikmanualen legt nahe, „Trauma“ sei ein Ereignis, das bereits vergangen ist, wenn sich die Symptome der Störung auszubilden beginnen. Nach dem Trauma (= post-traumatisch) bildet sich die Störung aus. Offensichtlich werden hier die Begriffe „Trauma“ und „traumatisches Ereignis“ miteinander vermischt, denn vergangen ist ja streng genommen nur das traumatische Ereignis: eine definitorische Nachlässigkeit, die für eine sich entwickelnde Wissenschaft nicht folgenlos bleibt. Dagegen ist festzuhalten, dass der Begriff Trauma nicht koextensiv mit „traumatischem Ereignis“ zu verstehen ist.
Wenn das Trauma also kein Ereignis ist, also kein „objektiver“, äußerlicher Vorgang, sollte „Trauma“ dann nicht subjektiv definiert werden? Etwa so: Trauma ist ein unerträgliches Erlebnis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet. Für diesen Definitionsversuch sprechen einige gute Argumente, andere aber auch dagegen. Vor allem die Gefahr subjektiver Willkür und Beliebigkeit, sobald der Bezug des Erlebens auf das Ereignis außer Acht gelassen wird.
Schon die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass in der Psychotraumatologie keine einfachen, eindimensionalen Lösungen existieren nach Art eines weit verbreiteten Entweder-Oder-Denkens. Auf unsere Problemstellung angewandt etwa: Entweder lässt sich das Trauma ganz objektiv definieren (als objektives Ereignis) oder der Traumabegriff wird völlig „unscharf“, da er nur subjektiv ist und damit auch willkürlich verwendet werden kann.
Hier stellt sich die Frage: Liegt die Schwierigkeit nun eigentlich in der Sache selbst oder möglicherweise in unseren Denkgewohnheiten, die zu einfachen Schwarz/Weiß-Lösungen neigen? Wir sind der Meinung, dass letzteres zutrifft. Eine Wissenschaft wie die Psychotraumatologie hat immer zugleich mit Subjektivität und Objektivität zu tun. Wir müssen uns daher bemühen, unsere Denkgewohnheiten der Komplexität des Gegenstandes anzunähern. In der Psychotraumatologie benötigen wir eine Denkweise, die mit Widersprüchen umzugehen versteht, die den Widerspruch zum Beispiel zwischen einem objektiven und subjektiven Traumaverständnis nicht einfach als einen Irrweg oder als „unlogisch“ abtut, sondern ihn ganz im Gegenteil zur Grundlage der Forschung macht. Mit solchen in sich widersprüchlichen Phänomenen ist die Psychotraumatologie nahezu durchgehend befasst. Erforderlich ist daher eine dialektische Denkweise als Grundlage dieser Disziplin, die solchen Widersprüchen gerecht wird.
Wir können festhalten: „Trauma“ muss sowohl objektiv wie auch subjektiv definiert werden. Hieraus ergeben sich bereits einige negative definitorische Bestimmungen, die zur Vermeidung von Irrtümern nützlich sind. „Trauma“ ist keine Qualität, die einem Ereignis inhärent ist noch aber einem Erlebnis als solchem. Entscheidend ist vielmehr die Relation von Ereignis und erlebendem Subjekt. Im Mittelpunkt steht also die Beziehung des Subjekts zum Objekt oder zur „Umwelt“. Dieser ökopsychologische Gesichtspunkt ist für die Traumaforschung zentral, wurde aber und wird in traditionellen Disziplinen wie Klinischer Psychologie, Psychopathologie, Psychiatrie, Kinderpsychiatrie und auch in der Psychoanalyse oft vernachlässigt. So weit → ökologische Ansätze existieren, wie in der Entwicklungspsychologie (etwa Bronfenbrenner 1977) oder in der psychosomatischen Medizin (von Uexküll 1996, vgl. Abschnitt 2.2), wurden sie bisher noch nicht systematisch für die Traumaforschung entwickelt.
Epistemologisch wollen wir unseren Forschungsansatz in der Psychotraumatologie als ökologisch-dialektisch bezeichnen. Der ökologische Gesichtspunkt erfordert, traumatisierende Erfahrungen aus ihrem Umweltbezug, aus der wechselseitigen Beziehung von Person und Umwelt zu verstehen. Der dialektische Gesichtspunkt verdeutlicht hier u. a., dass zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen der „Innenperspektive“ des leidenden Subjekts und der „Außenperspektive“ des objektiven Beobachters ein spannungsreiches und in sich widersprüchliches Verhältnis besteht. Die Pole des Subjektiven und Objektiven können nicht „kurzgeschlossen“ werden, wie dies in einer reinen Erlebens- oder reinen Verhaltenspsychologie geschieht. Trauma ist kein „Stimulus“ oder „Stressor“ und auch keine bloße → „Kognition“. Vielmehr muss das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenperspektive in der Traumaforschung ertragen und produktiv verwendet werden.
Die „traumatische Situation“ ist aus diesem Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung, von Erleben und Verhalten zu verstehen. Sie bildet die erste Phase unseres heuristischen Verlaufsmodells der psychischen Traumatisierung. Die „Situation“ verstehen wir dabei zugleich als die minimale Beobachtungseinheit, die ohne Verlust entscheidender Verstehensmöglichkeiten nicht unterschritten werden kann. Wer sich nicht in die „Situation“ der Betroffenen hineinversetzt, kann eine traumatische Erfahrung nicht verstehen. Wir werden uns in Abschnitt 2.1mit dem Begriff der „Situation“ ausführlich befassen, einmal in seinem theoretischen Bezug, wie er in der phänomenologischen Philosophie, Psychologie und Soziologie sowie der psychosomatischen Medizin entwickelt wurde. Eine → Phänomenologie und Typologie traumatischer Situationen ist zugleich aber auch ein praktisches Forschungsziel der Psychotraumatologie als einer angewandten wissenschaftlichen Disziplin.
Traumatische Situationen sind solche, auf die keine subjektiv angemessene Reaktion möglich ist. Sie erfordern dringend, z. T. aus Überlebensgründen eine angemessene und „not-wendige“ Handlung und lassen sie doch nicht zu. Wie reagieren wir auf Situationen, die eine angemessene Reaktion nicht zulassen? Die Paradoxie der traumatischen Situation ist zugleich die der „traumatischen Reaktion“, der zweiten Phase in unserem (ökologisch-dialektischen) Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung. Wie verarbeitet das betroffene Individuum oder die soziale Gruppe eine Situationserfahrung, die ihre subjektive Verarbeitungskapazität oder vielleicht die von uns allen massiv überschreitet? Das ist die leitende Forschungsfrage des Verlaufsmodells in Phase 2, im Hinblick auf die → traumatische Reaktion oder „Notfallreaktion“.
Auch ein dritter Gesichtspunkt schließlich ist in der Paradoxie der → traumatischen Reaktion (Situation) schon enthalten. Er leitet über zum dritten Moment des Verlaufsmodells, dem → traumatischen Prozess. Das Paradoxon der traumatischen Reaktion ist hier gewissermaßen auf Zeit gestellt. In der weiteren Lebensgeschichte, manchmal ein volles Leben lang, bemühen sich die Betroffenen, die überwältigende, physisch oder psychisch existenzbedrohende und oft unverständliche Erfahrung zu begreifen, sie in ihren Lebensentwurf, ihr Selbst- und Weltverständnis zu integrieren; dies in einem Wechselspiel von Zulassen der Erinnerung und kontrollierender Abwehr oder Kompensation, um erneute Panik und Reizüberflutung zu vermeiden. Auch hier ist die → Dialektik von Innen- und Außenperspektive für die psychotraumatologische Forschung grundlegend. Von der Außenperspektive des unbeteiligten Beobachters aus lässt sich die Zerstörung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche traumatische Erfahrungen bewirken, oft noch nicht einmal ahnen. Die systematische Erforschung traumatischer Prozesse auf dem Hintergrund von traumatischer Situation und Reaktion ist eines der Ziele unseres heuristischen Modells.
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