2.Veränderungen der Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).
3.Veränderungen des Bewusstseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/Derealisation, Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver Symptome oder in Form von ständigem Grübeln.
4.Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener Wertlosigkeit oder Stigmatisierung; Gefühl, völlig verschieden von anderen zu sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsamkeit, die Überzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht menschlich zu sein).
5.Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung mit ihm (z. B. auch in Form von Rachegedanken); eine unrealistische Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht des Täters unter Umständen realistischer einschätzen als der Therapeut); Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernahme von Weltanschauung oder Rechtfertigungen des Täters.
6.Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wechseln mit Isolation und Rückzug), ständigem Misstrauen, wiederholtem Versagen beim Schutz der eigenen Person.
7.Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Tabelle 5: Vorläufige ICD-11 Kriterien für die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Übers. A. G. F.)
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) ist ein Störungsbild, das sich nach dem Erleben eines einzelnen Ereignisses oder einer wiederholten Serie von Ereign issen, die extreme, dauerhafte oder repetitive Charakteristika zeigen und als besonders bedrohlich und erschreckend erlebt werden und vor denen eine Flucht schwierig oder unmöglich ist (z. B. Folter, Versklavung, Genozid, dauerhafte häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder physischer Kindesmissbrauch) entwickeln kann. Das Störungsbild ist charakterisiert durch die Kernsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung; dies bedeutet alle diagnostischen Voraussetzungen der Posttraumatischen Belastungsstörung lagen zu mindestens einem Zeitpunkt im Verlauf der Erkrankung vor. Zusätzlich ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung durch folgende Merkmale bestimmt:
1)schwerwiegende und weitreichende Störung der Affektregulation;
2)andauernde Selbstüberzeugungen, minderwertig, unterlegen oder wertlos zu sein, die mit tiefen und weitreichenden Gefühlen von Scham, Schuld und Versagen gegenüber dem traumatischen Ereignis / dem Täter einhergehen;
3)dauerhafte Schwierigkeiten im Aufrechterhalten von Beziehungen und Nähegefühlen zu anderen.
Die Störung verursacht erhebliche Einschränkungen auf persönlicher, familiärer, sozialer oder beruflicher Ebene oder in anderen wichtigen Lebensbereichen.
Mit dem komplexen PTBS kommt die Psychotraumatologie dem Ziel näher, Klassifikationssysteme für ein weites Spektrum von Folgeerscheinungen zu entwickeln, das von Stressreaktionen über die Folgen einmaliger traumatischer Ereignisse (Typ-I-Trauma) bis hin zu langdauernder Extremtraumatisierung reicht. Brett (1991) hat in diesem Sinne dafür plädiert, von einem „Traumaspektrum“ auszugehen, in dem die psychotraumatologischen Folgeerscheinungen anzusiedeln sind.
Dissoziative Identitätsstörung. Die Dissoziativen Störungen folgen im DSM-5 den Trauma- und Stressbezogenen Störungen, wobei das DSM-5 nun die zahlreichen Belege berücksichtigt, denen zufolge die Dissoziativen Störungen zum Traumaspektrum gerechnet werden müssen (wie bereits in früheren Auflagen dieses Lehrbuches hier beschrieben). Insbesondere die Kriterien der Dissoziativen Identitätsstörung (als Extremvariante einer „multiplen Persönlichkeitsorganisation“) wurden angepasst, um aufzuzeigen, dass die Symptome der Identitätsstörung durch den Patienten selbst mitgeteilt, aber auch nur beobachtbar sein können. Vorhandene Erinnerungslücken müssen sich nicht länger auf traumarelevante Inhalte beziehen und können auch alltägliche Ereignisse umfassen. Zu den mindestens zwei unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen wird ergänzt, dass diese in manchen Kulturen als pathogene Besessenheit beschrieben werden. Das DSM-5 führt die in Tabelle 6genannten Kriterien an.
Tabelle 6: Dissoziative Identitätsstörung nach DSM-5
A. Das Vorhandensein von zwei oder mehreren unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die in manchem kulturellen Kontext als spirituelle Besessenheit beschrieben werden können. Die Unterbrechung der Identität beinhaltet eine deutliche Diskontinuität der Selbstwahrnehmung, begleitet von ähnlichen Veränderungen in Affekterleben, Verhalten, Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, und / oder sensomotorischen Funktionen. Diese Merkmale und Symptome können entweder von anderen beobachtet oder selbst wahrgenommen werden.
B. Wiederkehrende Lücken im Erinnern alltäglicher Ereignisse, wichtiger persönlicher Informationen und / oder traumatischer Ereignisse, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgehen.
C. Das Störungsbild verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen bedeutsamen Funktionsbereichen.
D. Das Störungsbild ist kein normaler Bestandteil weithin akzeptierter kultureller oder religiöser Praktiken. Zu beachten: Bei Kindern sind diese Symptome nicht zurückführbar auf Spielgefährten in der Phantasie oder anderes Phantasiespiel.
E. Die Störung ist keine physiologische Auswirkung einer chemischen Substanz (z. B. Blackouts oder chaotisches Verhalten während Alkoholintoxikation) oder ein allgemeiner Krankheitszustand (z. B. fokale epileptische Anfälle).
Zu beachten: Die dissoziative Identitätsstörung geht auf zwei Dispositionen zurück, einerseits eine Neigung zu dissoziativen Reaktionen wie Geistesabwesenheit, starke Vergesslichkeit usf. Der zweite ätiologische Faktor sind extreme traumatische Erfahrungen in der Kindheit durch physische Misshandlung und / oder andere Formen extremer Traumatisierung.
Akute Belastungsstörung (acute stress disorder). Dieses Symptombild wurde erstmals in der 4. Auflage des Diagnostisch Statistischen Manuals (DSM) aufgenommen. Das DSM-5 umfasst die in Tabelle 7genannten Kriterien.
Tabelle 7: Akute Belastungsstörung nach DSM-5
A. Kriterium erlebter traumatischer Situation wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung.
B. Das Vorhandensein von neun (oder mehr) Symptomen aus den folgenden fünf Kategorien: Wiedererleben, negative Stimmung, Dissoziation, Vermeidung und Arousal. Die Symptome beginnen oder verschlechtern sich nach dem traumatischen Ereignis:
Wiedererleben
1)Wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen (Intrusionen) an das oder die traumatischen Ereignisse. Beachte: Bei Kindern können traumabezogene Themen oder Aspekte des oder der traumatischen Ereignisse wiederholt im Spielverhalten zum Ausdruck kommen.
2)Wiederkehrende belastende Träume, deren Inhalte und / oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.
3)Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob das oder die traumatischen Ereignisse sich wieder ereignen. (Diese Reaktionen können in einem Kontinuum auftreten, bei dem der völlige Wahrnehmungsverlust der Umgebung die extremste Ausdrucksform darstellt.) Beachte: Bei Kindern können Aspekte des Traumas im Spiel nachgestellt werden.
Читать дальше