Abhängig von der Natur der jeweiligen traumatischen Situation und der Disposition des Individuums können die drei Dimensionen des bPTBS recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Daraus ergeben sich phänomenal wiederum unterschiedliche Symptombilder. Bei extremer Ausprägung der Verleugnungs-/Vermeidungsdimension sind die sog. „frozen states“ (nach Mardi Horowitz 1976) beobachtbar, apathisch-depressive Erstarrungszustände mit emotionaler Anästhesie und einem katatonieähnlichen Verhaltensbild, ev. auch psychosomatischen Begleiterkrankungen. Die Extremform der Intrusionskomponente führt dagegen zu einem agitierten Erregungszustand und hilfloser Überflutung durch traumatische Reize bzw. Erinnerungen. Extremvarianten der physiologischen Erregungskomponente gehen mit einem langanhaltenden Erregungszustand einher, der ebenfalls eine Reihe körperlicher Erkrankungen nach sich ziehen kann.
Als Beispiele solcher „Erregungskrankheiten“ führt Everly (1995, 44) auf: Bluthochdruck, Kammerflimmern im Zusammenhang mit psychischen Belastungen, kardiale nichtischämische Muskeldegeneration, koronare Herzerkrankungen, Migräne, Raynaudsche Krankheit, Spannungskopfschmerz, funktionelle Störungen des muskulären Apparates, Magengeschwüre und Colon irritabile (chronische nicht primär organische Durchfallerkrankung).
Diese Erkrankungen können sich im Gefolge extremer und langanhaltender Aktivationsperioden des autonomen Nervensystems einstellen. Viele von ihnen wurden beispielsweise als Komponenten des KZ-Syndroms bei ehemaligen KZ-Häftlingen festgestellt, jedoch erst nach langer Auseinandersetzung mit den deutschen Gutachtern auch rechtlich als Haftschaden anerkannt. Sie zählen nicht zum Algorithmus des bPTBS (im Sinne der PTSD), auch nicht die katatonieähnlichen „frozen states“ oder die extremen Erregungszustände.
Versteht man das Syndrom jedoch verlaufstheoretisch als Momentaufnahme von Prozessen traumatischer Erlebnisverarbeitung, so werden auch diese Symptome als Extremvariante der drei Komponenten (Erinnerung, Verleugnung und Erregung) erkennbar, die an der Traumareaktion generell beteiligt sind. Im Sinne eines dynamisierten Verständnisses der bPTBS halten wir es für nützlich, auch die zuvor aufgeführte Extremausprägung der einzelnen Dimensionen und ihre Folgeerscheinungen in den Syndromalgorithmus einzubeziehen auf Kosten der Forderung, dass für die Diagnose alle drei Dimensionen mit Symptomen besetzt sein müssen, wie es das jetzige PTSD vorsieht.
Verzögertes PTBS. Das basale psychotraumatische Belastungssyndrom kann auch nach Monaten, manchmal erst nach Jahren in Erscheinung treten. Auch diese Beobachtung spricht u. E. dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Hier kann das Erlebnismoment der Nachträglichkeit beteiligt sein, wenn dem früheren Erlebnis erst im Nachhinein eine existenziell bedrohliche Bedeutung verliehen wird. Bedingt durch eine Wiederholung von Komponenten der traumatischen Situation, durch Lebenskrisen oder „Passagen“ im Lebenszyklus (wie Adoleszenz, Elternschaft, Altern) kann ein bis dahin latentes → Traumaschema stimuliert werden und zur Symptomproduktion beitragen.
Victimisierungssyndrom. Frank Ochberg, ein Traumaforscher aus Michigan, der sich vor allem mit Therapie für Opfer von Gewaltverbrechen befasst, hat für die traumatische Auswirkung von Gewalterfahrungen eine Symptomliste vorgeschlagen (1988), die er später zu einem Syndrom zusammenfasste mit einem eigenen Kalkül für die Diagnose analog zum bPTBS (1993). Das Syndrom besteht aus drei Kriterien (A, B, C) und 10 Symptomen (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3: Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Übers. G. F. und P. R.)
A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.
B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muss noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):
1)Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).
2)Die Überzeugung, dass man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft beschädigt ist (z. B. wenn ein missbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung ist, dass es für andere nie mehr attraktiv sein kann).
3)Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen Intimität herzustellen.
4)Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.
5)Unangemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physischen) Verletzungen.
6)Amnesie des traumatischen Erlebnisses.
7)Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.
8)Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.
9)Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial angemessenem Verhalten (z. B. die Annahme, dass es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder dass es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, damit sie gehorcht).
10)Idealisierung des Täters.
C. Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.
Ochberg bringt mit diesem Vorschlag u. E. einige der symptomatischen Besonderheiten zum Ausdruck, die durch eine traumatische Erschütterung des → kommunikativen Realitätsprinzips entstehen. Insofern erscheint es uns angebracht, das Victimisierungssyndrom (VS) zu den Syndromen der allgemeinen Psychotraumatologie zu rechnen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrungen. Es überschneidet sich in einigen Punkten mit dem basalen psychotraumatischen Belastungssyndrom, benennt aber zusätzlich Aspekte einer Erschütterung und Verzerrung von Prämissen unserer sozialen Welterfahrung, die im bPTBS noch nicht erfasst sind. Für die → Diagnostik der Folgen von Gewalterfahrung sollte das Victimisierungssyndrom (VS) ergänzend zum bPTBS berücksichtigt werden.
Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom. In mancher Hinsicht eine Verbindung zwischen bPTBS und VS stellt das → komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Judith Herman und Bessel van der Kolk dar („complex PTSD“, im Folgenden abgekürzt als kPTBS). Die Folgen vor allem von schwerster, langanhaltender und wiederholter Traumatisierung wie etwa nach Folter, Lagerhaft und fortgesetzter Misshandlung sucht das kPTBS zu beschreiben. DESNOS ( = Diagnosis of Extreme Stress Not Otherwise Specified) hat als Arbeitsgruppe wesentliche Kriterien erarbeitet, die als Grundlage der erweiterten Trauma-Kriterien im DSM-5 angenommen werden können, auch wenn es hier nach wie vor keine eigene Definition für das komplexe PTBS gibt. Auch die Arbeitsgruppe um das Manual der Weltgesundheitsorganisation, die ICD, bereitet derzeit eine diagnostische Kategorie zum „Persönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungen“ vor. Der Vorschlag von Herman u. van der Kolk umfasst 7 Kriterien bzw. Symptomgruppen ( Tabelle 4). Diese ausführlicheren Formulierungen finden sich in der aktuell (Stand: Mai 2018) in der Finalisierung begriffenen ICD-11 wieder ( Tabelle 5).
Tabelle 4: Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom (Herman 1992, 121, Übers. G. F. u. P.R.)
1.Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) mit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, Überleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären Bereich, wie Überlebende von familiärer Gewalt, Kindesmisshandlung, sexuellem Kindesmissbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.
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