Auf den zweiten Blick dürfte beim gerade genannten Beispiel aber auch ein Unterschied auffällig werden zwischen dem, worum es in der Physik, und dem, worum es in der Sozialen Arbeit geht. Dieser Unterschied zwischen der Sozialen Arbeit und anderen Wissenschaften, wie etwa der Physik, wird bereits anhand der unterschiedlichen Begriffe deutlich, die üblicherweise in Physik und Sozialer Arbeit benutzt werden. Dies gilt auch und gerade dort, wo es um die Rolle von Theorie(n) geht:
PhysikerInnen würden bei der o.g. Beispielsituation mit dem Bleistift im Vorlesungssaal normalerweise wohl eher von einem „empirischen“ als von einem „praktischen“ Beispiel sprechen.
Als empirisch bezeichnet man Formen wissenschaftlicher Erkenntnis, die auf der Grundlage methodisch kontrollierter Erfahrungen gewonnen wurden. Entscheidend ist also, dass diese Erkenntnisse auf einem äußeren Weltkontakt beruhen und den Status eines erfahrungsbezogenen Wissens haben, das wiederum von anderen Formen wissenschaftlichen Wissens abgegrenzt wird, welches allein der Gedankenwelt entspringt. Der Empirismus ist damit zugleich logisch mit bestimmten Axiomen (Definition in Kap. 5.2), also Vorannahmen verbunden, welche jedoch bewusst so konkret wie möglich gehalten werden, was zugleich wissenschaftshistorisch mit einer bestimmten Entstehungsepoche verbunden ist (Gawlick 2000). Dass empirische Erkenntnisse auf methodisch kontrollierte Erfahrungen aufbauen, bedeutet, dass es sich um Erkenntnisse und Informationen handelt, die z. B. auf der Grundlage von Experimenten, Beobachtungen oder Befragungen ermittelt worden sind. Gemeinhin wird dabei zwischen „quantitativen/quantifizierenden“ (also auf die Verteilung und Häufigkeit interessierender Phänomene fokussierten) und „qualitativen“ (also auch die Tiefenstruktur und Einzelfallrekonstruktion von Phänomenen gerichteten) Methoden empirischer Sozialforschung unterschieden, wobei heutzutage in Studien vermehrt auch methodische Mischformen oder Methodenkombinationen verwendet werden.
Die Physik ist als Wissenschaft grundsätzlich an allen möglichen Erfahrungen (also: empirisch über die Sinne vermittelten Eindrücken) interessiert, die sie zugleich mit einer bestimmten Art wissenschaftlicher Theorien begreifen kann. Ob im Zuge der in der Physik theoretisch relevant gemachten Erfahrungen jemand auch „praktisch arbeitet“, ist für PhysikerInnen nicht von primärem Interesse.
Anders sieht es in der Sozialen Arbeit aus. Wenn über Soziale Arbeit gesprochen wird, so bezieht man sich in der Regel auf Erfahrungen, die nicht nur empirisch über die Sinnestätigkeit irgendwie einfangbare Momente darstellen, sondern die zugleich auch regelmäßig als „Praxis“ bestimmter Akteure in den Blick genommen werden. Diese Momente werden – um einen in diesem Zusammenhang häufig zu findenden Ausdruck zu verwenden – dann oft auch direkt als „Praxiserfahrungen“ bezeichnet.
Dass dies so ist, könnte im Umkehrschluss auch für die Rolle relevant sein, welche Theorien in der Sozialen Arbeit zukommt. Von ihnen wird erwartet, irgendwie „praxisrelevant“ zu sein. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, noch einmal auf das zurückzukommen, was wir oben bereits erarbeitet haben: Für eine Vorstellung davon, was Praxis ist, braucht man Theorie. Jede Vorstellung von der „Praxisrelevanz“ einer Theorie bemisst sich damit logisch zwangsläufig ebenfalls an einer theoretischen Vor-Vorstellung davon, was diese „Praxis“, für welche die Theorie relevant sein soll, überhaupt ist.
Denn „Praxis“, oder konkreter: „Praxiserfahrungen“, sind – und hier ist es dann wieder nicht grundsätzlich anders als bei der Physik (!)– nur dann überhaupt als Praxiserfahrung wahrnehmbar, wenn man sie, bewusst oder unbewusst, in Zusammenhang mit Theorie bringt, die es ermöglicht ein Bild davon zu skizzieren, was denn Praxis eigentlich sein soll. Erst hierdurch wird es möglich, die konkrete Erfahrung überhaupt als „Praxiserfahrung“ zu begreifen, oder spezifischer: als „eine Erfahrung, die etwas mit der Praxis zu tun hat“.
Was man nun zusätzlich noch braucht, um von einer Praxiserfahrung sprechen zu können, die etwas mit „Sozialer Arbeit“ zu tun hat, ist – noch mehr Theorie. Es reicht nämlich nicht, eine ganz abstrakte Vorstellung davon zu haben, was Praxis im Allgemeinen ist. Man braucht darüber hinaus auch noch eine Vorstellung davon, was eigentlich „Soziale Arbeit“ ist, um eine dann konkretere Vorstellung von der „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu entwickeln. Erst mit dieser wiederum theoretischen Vorstellung kann man dann in einer sinnvollen Art und Weise von Praxis Sozialer Arbeit sprechen.
Mit anderen Worten: Man braucht an jeder Stelle, an der man von einer „Praxiserfahrung“, die für die Soziale Arbeit relevant ist, spricht, an jeder Stelle also, an der von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ ausgegangen wird, sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“; ein generelles Bild davon also, was Soziale Arbeit – über die einem konkret begegnende Erfahrung hinaus – ist.
Erst im Zusammenspiel zwischen einer konkreten Wahrnehmung und einer theoretischen Idee davon, was „Praxis der Sozialen Arbeit“ sein könnte, kann es also gelingen, auch eine „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ zu machen, die als solche verbalisierbar ist. Hierdurch erst hat man das zustande gebracht, was Peirce eine „Abduktion“ nennt, und kann damit anfangen, mehr als ein „leeres Starren“ auf die Welt zustande zu bringen.
Wie Theorie und Erfahrung bei der Benennung dessen, was „Praxiserfahrungen in der Sozialen Arbeit“ sind, zusammengebracht werden, unterscheidet sich im Einzelfall natürlich sehr. Denn grundsätzlich ist es möglich, in jedem einzelnen Moment einer Erfahrung wieder eine neue Theorie zur Beschreibung dieser Erfahrung heranzuziehen.Auch dies ist den meisten Menschen aus ihrem Alltag bekannt. Ein Beispiel:
Lernt man neue Freunde kennen, so hat man oft noch ein ziemlich anderes Bild von einem Menschen als im fortgeschrittenen Stadium der Freundschaft. Bezogen auf das Verhältnis von Theorie und Erfahrung heißt das, dass sich durch unterschiedliche Erfahrungen mit der befreundeten Person auch die eigene Theorie dazu, wer diese Person eigentlich ist, verändert. Konkret gesprochen verändern Menschen also ihre Theorie zur gegenüberstehenden Person allmählich und versuchen damit ihren (neuen) Erfahrungen gerecht zu werden, obwohl es doch vermeintlich stets um „dieselbe“ Person geht. Die gängige Rede vom „sich besser Kennenlernen“ kann dabei allerdings irreführend sein, denn sie verleitet zu der Annahme, dass man eine immer bessere Theorie zum Gegenüber entwickeln könnte, bis man diese Person schließlich „ganz und gar“ kennt – und zwar so, wie sie „eigentlich“ ist. Ein solch „kumulatives“ Verständnis von Wissensgenerierung durch Theorien gilt heutzutage als überholt (Bachelard 1978; Kuhn 1962). Eher dürfte es so sein, dass man durch den laufenden Abgleich zwischen Erfahrung und Theorie dazu neigt, verschiedene Theorien zum jeweiligen Gegenstand (in diesem Fall: der befreundeten Person) zu entwickeln, die man dann je nach Situation parat hat, um eine Handlung oder eine Äußerung des befreundeten Gegenübers sinnvoll zu interpretieren. Und das scheint durchaus sinnvoll zu sein, denn über je mehr verschiedene Theorien zu einer Person man verfügt, umso handlungsfähiger bleibt man im Umgang mit ihr, weil es mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt, Sinn in den Äußerungen und Handlungen des Anderen zu sehen. In paradoxer Weise wird man jedoch zugleich die Erfahrung machen, dass immer mehr verschiedene Bilder zu der befreundeten Person dazu führen, dass man immer weniger darüber weiß, wer dieser Mensch „eigentlich“ ist.
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