Reliabilität
Die Beurteiler-Übereinstimmung (Interrater-Reliabilität), in dem Sinne, dass sich verschiedene Beurteilerinnen und Beurteiler zuverlässig über das Vorhandensein einer Erkrankung einigen können, kann bei einer Zugrundelegung der neuen Kriterien der somatischen Belastungsstörung als gut bis sehr gut bezeichnet werden (Freedman et al. 2013).
Valide bedeutet im Zusammenhang mit klinischen Diagnosen vor allem, dass ein klinisches Syndrom klar genug beschrieben ist (deskriptive Validität), der Symptomverlauf der Patientinnen und Patienten im Laufe der Zeit vorhergesagt werden kann (prognostische Validität) und ähnliche Erkrankungen zuverlässig ausgeschlossen werden können (differenzielle Validität). Darüber hinaus sollten valide Diagnosen das Ansprechen der Patientinnen und Patienten auf die Behandlung vorhersagen (Robins / Guze 1970; Voigt et al. 2010). |
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Obwohl die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung bereits als „überinkludierend“, mit dem Potenzial für zu viele falsch-positive Diagnosen kritisiert wurde (Frances 2013), deuten erste Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die neue Diagnose im Gegenteil restriktiver als die somatoforme Diagnose nach DSM-IV sein könnte.
Eine Studie mit Patientinnen und Patienten mit Symptomen, die als „medizinisch unerklärt“ eingestuft wurden (n=325), ergab, dass doppelt so viele Patientinnen und Patienten die diagnostischen Kriterien für eine somatoforme Störung (DSM-IV) erfüllten als die einer somatischen Belastungsstörung (DSM-5; 93 versus 46 %; Dessel et al. 2016).
Darüber hinaus erfordert die Diagnose der somatischen Belastungsstörung, wie in den B-Kriterien beschrieben, dass die Patienten „übertriebene“ oder „unangemessene“ Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen aufweisen. Dadurch lässt sich eine Gruppe von Patienten identifizieren, die sich durch eine größere psychische Beeinträchtigung im Vergleich zu Patienten mit einer somatoformen Störungen kennzeichnet (Voigt et al. 2012).
Aktuelle Studien aus anderen Settings berichten teilweise aber auch gegenteilige Befunde. Zum Beispiel konnten Limburg et al. bei Patientinnen und Patienten mit Schwindelsymptomen in einer neurologischen Ambulanz feststellen, dass die Kriterien der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 fast doppelt so häufig erfüllt wurden wie die DSM-IV Kriterien der somatoformen Störungen (Limburg et al. 2016). Dass es sich um eine in bestimmten Settings häufig erfüllte Diagnose handelt, zeigte sich auch in einer Studie aus einer psychosomatischen Ambulanz: hier erfüllte mehr als die Hälfte der untersuchten Patientinnen und Patienten (54,6 %) die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung (Hüsing et al. 2018).
Insgesamt gibt es leider erst wenige Resultate aus Studien, die sich empirisch mit den neuen Diagnosekriterien beschäftigen. Hier besteht dringend weiterer Forschungsbedarf.
1.5 Zusammenfassung
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein häufiges, sowohl für die Betroffenen als auch für das Gesundheitssystem bedeutsames Phänomen. Mit einer zunehmenden Anzahl an belastenden Körpersymptomen steigt das Risiko für individuelles Leiden, Funktionseinschränkungen im Alltag, psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, gesundheitsbezogene Kosten und Arbeitsunfähigkeit. Im Rahmen der medizinischen Diagnostik sollten daher immer sowohl das Ausmaß körperlicher Symptome, als auch die damit verbundene Belastung erhoben werden. Um die Auswirkungen der Beschwerden, das Ausmaß der Beeinträchtigung und das Chronifizierungsrisiko sinnvoll einschätzen zu können, sollten neben einer angemessenen organmedizinischen Abklärung der Körperbeschwerden, im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, immer auch psychische, soziale und verhaltensrelevante Ursachen für symptombedingtes Leiden erfragt werden. Diese Verknüpfung spiegelt sich auch in der neuen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach DSM-5 und ICD-11) wider, die sich durch das Vorhandensein belastender Körpersymptome bei einem dysfunktionalen kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Umgang mit diesen Beschwerden kennzeichnet. Damit wird die Diagnose der somatischen Belastungsstörung frühere Konzepte wie das der somatoformen Störungen oder der medizinisch unerklärten Körperbeschwerden zukünftig ablösen. Die somatische Belastungsstörung wird als psychische Diagnose unabhängig von der Verursachung der somatischen Symptome vergeben. Wie der diagnostische Prozess im besten Falle aussehen könnte, und wie betroffene Patientinnen und Patienten in geeigneten Versorgungssetting adäquat therapeutisch behandelt werden sollten, wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches beschrieben.
1.6 Fragen zum 1. Kapitel
1.Was sind drei der häufigsten körperlichen Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung?
2.Wie hoch wird der Anteil unerklärter Körperbeschwerden in der allgemeinmedizinischen Versorgung geschätzt?
3.Welche diagnostischen Begriffe für anhaltende Körperbeschwerden werden in unterschiedlichen Kontexten benutzt?
4.Die somatische Belastungsstörung gemäß DSM-5 und ICD-11 ist das aktuellste diagnostische Konzept für belastende und anhaltende Körperbeschwerden: Welche früheren Konzepte kennen Sie und worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen diesen Konzepten?
5.Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen eines oder mehrere beeinträchtigende somatische Symptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vorliegen. Welches weitere diagnostische Kriterium muss erfüllt sein?
2 Epidemiologie
2.1 Prävalenz
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein weit verbreitetes Phänomen. Genaue Schätzungen zur Prävalenz und Inzidenz klinisch relevanter Körperbeschwerden lassen sich nur schwer bestimmen. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, existieren zahlreiche unterschiedliche Begrifflichkeiten und diagnostische Konzepte zur Klassifikation anhaltender und medizinisch unerklärter Körperbeschwerden, somatoformer und funktioneller Störungen und somatischer Belastungsstörungen. Die Prävalenzzahlen lassen sich entsprechend nur bezogen auf die jeweils zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien ( Kap. 5) bestimmen und interpretieren.
2.1.1 Allgemeinbevölkerung
In der Allgemeinbevölkerung sind körperliche Beschwerden sehr häufig.
In einer Studie aus dem Jahr 2006 gaben 82 % der befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten sieben Tage zumindest leicht beeinträchtigten, 22 % berichteten sogar mindestens eine Beschwerde, die sie schwer beeinträchtigte (Hiller et al. 2006). Die Teilnehmenden wiesen dabei oft multiple Körperbeschwerden anstatt nur einzelner Symptome auf und berichteten im Durchschnitt sieben verschiedene Symptome. Dabei wurden vor allem Rücken-, Kopf-, Gelenk- und Menstruationsschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, Verdauungsbeschwerden und mit Sexualität assoziierte Beschwerden wie Erektions- und Ejakulationsstörungen genannt. In einer vergleichbaren Studie aus Großbritannien ergaben sich als häufigste über die vergangenen 2 Wochen berichteten Symptome Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen (McAteer et al. 2011), wobei im Durchschnitt vier belastende Symptome pro befragter Person genannt wurden. In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass von 1000 befragten Personen jeden Monat 80 % körperliche Beschwerden verspürten, die sie als beeinträchtigend beschrieben (Green et al. 2001).
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