Unterschiedliche Begriffe werden in unterschiedlichen Settings und Klassifikationssystemen benutzt
(z. B. Hausarzt, Facharzt, psychotherapeutische Versorgung etc.):
■Nichtspezifische oder medizinisch unerklärte Symptome
■Funktionelle Syndrome (z. B. Reizdarm, Fibromyalgie, Chronic Fatigue)
■Somatoforme Störungen (ICD-10, DSM-IV)
■Somatische Belastungsstörung (ICD-11, DSM-5)
Der Vorteil des übergeordneten Begriffes „anhaltende Körperbeschwerden“ ist, dass er keine Psychogenese, sondern nur die Störung bestimmter Körperfunktionen voraussetzt. Obwohl es also unterschiedliche medizinische und psychiatrische Klassifikationen für diese Art von Symptomen gibt, handelt es sich dabei eigentlich um alternative Methoden, um die gleichen oder zumindest ähnliche Phänomene zu beschreiben (Henningsen et al. 2018; Kroenke 2003). Unser Lehrbuch nimmt vor allem die Gemeinsamkeiten dieser Störungsbilder in den Blick. Unser Anliegen ist es fächerübergreifend und praxisnah ein umfassendes (biopsychosoziales) Verständnis anhaltender Körperbeschwerden zu fördern.
Die Existenz paralleler Klassifikationsmöglichkeiten ist oftmals verwirrend. Für viele anhaltende Körperbeschwerden kann eine einfache Beschreibung mit einer zusätzlichen Spezifikation des Symptoms wie „isoliert“ oder „multiple“ und „akut“ oder „chronisch“ ausreichend sein. Häufig vermittelt auch eine Kombination aus medizinischen und psychiatrischen Diagnosen die beste Information wie z. B. Reizdarmsyndrom mit komorbider Angststörung (Mayou / Farmer 2002).
Nicht alle belastenden Körperbeschwerden haben einen Krankheitswert. Erst wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Monaten bestehen und bedeutsames Leiden und Beeinträchtigungen bei den Patienten verursachen, sollte eine Diagnose wie beispielsweise die somatoforme Störung (nach ICD-10 und DSM-IV) vergeben werden (Rief / Martin 2014).
1.3 Historische Konzepte
Anhaltende Körperbeschwerden sind kein neues Phänomen. Medizinisch unerklärte Körperbeschwerden sind vermutlich seit Anbeginn der medizinischen Lehre bekannt.
Eine ausführliche Darstellung der Historie somatoformer Störungen findet sich bei Morschitzky (2007).
Im Folgenden werden die zentralen Entwicklungen in der Konzeptualisierung der somatoformen Störungen bis hin zur heute aktuellen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach ICD-11 und DSM-5) in Kürze dargestellt.
Vor allem der Somatisierungsbegriff findet sich bereits früh bei Stekel (1908, 1935; vgl. Kleinstäuber 2018). Lange Zeit galt die Somatisierung nicht als eigenständige Störungseinheit, sondern als Symptom und Folge einer anderen zugrunde liegenden psychopathologischen Störung, vor allem der Hysterie (Hoffmann 1996) oder der (larvierten) Depression. Bridges und Goldberg (1985) benannten ein hohes ärztliches Inanspruchnahmeverhalten, einen somatischen Attributionsstil der Beschwerden, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung sowie ein Ansprechen der somatischen Beschwerden auf die Behandlung der psychischen Primärerkrankung als notwendige Kriterien, um die Diagnose einer Somatisierung zu erfüllen.
Konzept der Somatisierung
In der klassischen, psychoanalytisch geprägten Psychosomatik wurde Somatisierung nicht als Kategorie für eine Störungseinheit genutzt, sondern vielmehr als Bezeichnung für einen Prozess bzw. pathologischen Mechanismus, der sich auf den Vorgang der Konversion psychischer Konflikte in somatische Symptombildung bezog (Hoffmann 1996; Küchenhoff 2001). Dahinter steht die Idee, dass der Verlust bestimmter körperlicher Funktionen (z. B. Sehen, Hören oder willkürliche motorische Handlungen) in Zusammenhang zu starken emotionalen Zuständen (z. B. als Folge von Traumatisierungen) steht.
Konversion und Dissoziation
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Dissoziation beschrieben, der eine Desintegration von mentalen Prozessen und Inhalten wie des Erlebens, Handelns oder des Gedächtnisses meint (Kapfhammer 2001).
biopsychosoziale Konzepte
Das bekannteste Vorläuferkonzept der heutigen somatoformen Störungen (bzw. der Somatisierung) ist das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte „Briquet-Syndrom“ (Briquet 1895). Briquet konzeptualisierte die Somatisierungsstörung dabei multifaktoriell (biopsychosozial) und benannte entsprechend emotionale Einflüsse, familiäre Erfahrungen und psychosoziale Stressoren als relevante Einflussfaktoren für die Symptomentstehung. Auch in der Definition von Lipowski (1988, S. 1359) wird die Somatisierung als multidimensionales Phänomen beschrieben. Es handelt sich demnach um
„eine Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren, der nicht hinreichend durch pathologische Befunde zu erklären ist, diesen auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen und dazu medizinische Hilfe aufzusuchen“.
Diese frühe Definition bildet die charakteristischen Merkmale der Somatisierung gut ab und bezieht perzeptuelle, kognitive und auch verhaltensbezogene Merkmale mit ein. Sie hat die Begriffsbestimmungen der somatoformen Störungen in den Klassifikationssystemen der Weltgesundheitsorganisation (WHO: International Classification of Disorders [ICD]) und der American Psychiatric Association (APA: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) stark geprägt.
In den Klassifikationssystemen der WHO (1991) und der APA (2000) wurden die somatoformen Störungen lange Zeit als eigenständige, primäre Störungskategorie aufgeführt ( Abb. 1.4). Die Diagnosen enthielten dabei nicht nur störungswertige Merkmale der Person selbst (Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren), sondern beinhalteten auch ein dysfunktionales Interaktionsmuster zwischen den Patientinnen und Patienten mit ihren Erklärungsmustern und Verhaltensweisen einerseits und den Ärztinnen und Ärzten bzw. dem medizinischem System andererseits.
Abb. 1.4: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD-10 (WHO 1992)
Als Alternative zur Diagnose der somatoformen Störung wurde lange Zeit vor allem in den Leitlinien der ICD für die ärztliche Primärversorgung der Begriff der „medizinisch unerklärten Symptome“ verwendet (Deary 1999). Der Begriff ist neutraler im Vergleich zum Somatisierungsbegriff, der durch seine historische Verknüpfung mit dem Konzept der Hysterie vorbelastet ist und dadurch auf Patientinnen und Patienten stigmatisierend wirken kann. Trotzdem ist der Begriff nicht unumstritten.
medizinische Erklärbarkeit von Körperbeschwerden
In der Wissenschaft findet sich der Standpunkt, dass alle körperlichen Beschwerden erklärbar sind, wenn die medizinische Abklärung nur ausführlich genug durchgeführt wird, und es lediglich eine Frage des medizintechnischen Fortschrittes ist, bis alle Beschwerden erklärt werden können. In der Praxis tun sich Behandlerinnen und Behandler häufig schwer, einzelne Beschwerden als hinreichend medizinisch erklärbar oder nicht einzuordnen (Fischer / Nater 2012).
1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand
Diese historischen diagnostischen Konzepte wurden aktuell durch Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association sowohl im DSM-5 (APA 2013) als auch in der ICD-11 (WHO 2018) durch neue Diagnosen abgelöst. Die neue Terminologie reflektiert das heutige Verständnis zur Pathogenese, Aufrechterhaltung und Prognose von subjektiv belastenden Körpersymptomen und soll damit auch den therapeutischen Zugang erleichtern, um unbefriedigende Behandlungsverläufe und eine Chronifizierung von körperlichen Beschwerden frühzeitig abwenden zu können (Känel et al. 2016).
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