kein Dualismus organisch vs. psychisch
Studien konnten wiederholt zeigen, dass Einschätzungen von Behandlerinnen und Behandlern, ob körperliche Symptome sich durch organische Befunde erklären lassen oder nicht, sehr unzuverlässig sind (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013). Je mehr somatische Symptome eine Person berichtet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Symptome auf das Vorhandensein einer zugrunde liegenden Grunderkrankung hindeuten und desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzlich eine komorbide Depression oder Angststörung vorliegt.
hohe Symptomlast als Risikofaktor
Der Leidensdruck der Patientinnen und Patienten, die Funktionseinschränkungen in wichtigen Bereichen des Alltags und das Chronifizierungsrisiko steigen zudem unabhängig von der Ursache der Symptome mit zunehmender Anzahl somatischer Symptome linear an (Jackson et al. 2006).
In der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden gibt es zahlreiche Herausforderungen.
fragmentierte Behandlung
Die medizinische Versorgungsrealität ist gekennzeichnet durch eine fragmentierte Behandlung in spezialisierten Settings (z. B. gastrointestinale Symptome in der Gastroenterologie, Brustschmerzen in der Kardiologie). Auch wenn Patientinnen und Patienten sich tatsächlich oft mit multiplen Symptomen vorstellen, werden diese selten gemeinsam betrachtet oder behandelt (Aaron / Buchwald 2001). Wenn anhaltende Körperbeschwerden eine somatische Grunderkrankung begleiten, wird die subjektive Belastung durch die Symptomatik im Rahmen der Standardbehandlung oft vernachlässigt. In einer Vielzahl der Fälle orientiert sich die Behandlung lediglich an den objektiven Krankheitsparametern. Die belastenden Körperbeschwerden werden häufig weder mit den Patientinnen und Patienten diskutiert noch durch klinische Interventionen adressiert (Henningsen et al. 2018).
eingeschränkte Wirksamkeit von Behandlungsmethoden
Es fehlt an allgemein akzeptierten, evidenzbasierten diagnostischen Konzepten und Behandlungsansätzen für betroffene Patientinnen und Patienten. Obwohl sich bei vielen Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden sowohl mit psychotherapeutischen als auch mit pharmakologischen Interventionen eine Verbesserung ihrer Beschwerden und Beeinträchtigung erzielen lässt, ist die Wirksamkeit aktueller Behandlungsmethoden mit Effektstärken im mittleren Bereich weiterhin verbesserungswürdig.
lange Dauer unbehandelter Erkrankungen
Darüber hinaus bleibt die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden lange unbehandelt oder wird zumindest nicht leitliniengemäß behandelt (Henningsen et al. 2018; Kleinstäuber et al. 2016; Wortman et al. 2018; Herzog et al. 2018).
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich mit ihren Beschwerden von ihren Behandlerinnen und Behandlern nicht ausreichend ernst genommen. Vor allem, wenn sich Symptome nicht hinreichend durch zugrunde liegende physiologische Prozesse oder Erkrankungen erklären lassen, fühlen sich Patientinnen und Patienten manchmal als Simulantinnen und Simulanten missverstanden.
Simulation, d. h. das bewusste Vortäuschen von Symptomen oder Beschwerden, ist in der täglichen Praxis tatsächlich ein eher seltenes Phänomen (Mayou / Farmer 2002). |
Simulation |
Kosten durch anhaltende Körperbeschwerden
Erfolgreiche Ansätze für die Prävention und Früherkennung sowie ein Zugang zu spezialisierter Versorgung für anhaltende Körperbeschwerden werden in der Praxis häufig nicht umgesetzt (Murray et al. 2016). Medizinische Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse oder auch Untersuchungen, die über eine notwendige und angemessene organmedizinische Abklärung hinausgehen, sowie häufige ambulante und stationäre Behandlungsversuche, ohne substanzielle Besserung der Beschwerden, führen dann zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem. Indirekte Kosten entstehen zudem durch Krankschreibungen und Produktivitätsverluste (Konnopka et al. 2013). Die klinische Relevanz von belastenden Körpersymptomen für die Lebensqualität und psychische Gesundheit sowie für die Arbeitsfähigkeit, die Anzahl an Arztbesuchen und verursachten Gesundheitskosten ist entsprechend hoch und vergleichbar mit den Kosten für das Gesundheitssystem, die durch Angst- und depressive Störungen verursacht werden (Barsky et al. 2005).
1.2 Zentrale Begriffe
Die unübersichtliche Terminologie erschwert die Versorgung und Forschung im Bereich anhaltender Körperbeschwerden. Im Rahmen der diagnostischen Konzeption werden derzeit zahlreiche Begrifflichkeiten für anhaltende Körperbeschwerden verwendet.
uneinheitliche Terminologie
Vor allem in der hausärztlichen Praxis wird für Beschwerden, für welche keine hinreichend erklärende, klar benennbare körperliche Erkrankung mit entsprechender Behandlungskonsequenz zu finden ist, oft der Begriff nichtspezifische (oder veraltet „medizinisch unerklärte“) Symptome verwendet. Eine weitere Parallelklassifikation findet sich zwischen den verschiedenen somatischen Fachrichtungen, die von funktionellen somatischen Syndromen sprechen, und den psychosozialen Fächern, die somatoforme Störungen wie die Somatisierungsstörung diagnostizieren.
Viele dieser Begriffe sind ungenau, kulturell unsensibel und manchmal irreführend oder stigmatisierend, vor allem der früher verwendete Begriff „medizinisch unerklärter“ Symptome (Kirmayer / Sartorius 2007; Mayou / Farmer 2002). Letzterer wurde häufig verwendet, wenn Symptome in Abwesenheit einer identifizierbaren Grunderkrankung auftraten.
In den einzelnen medizinischen Fachdisziplinen werden anhaltende Körperbeschwerden ohne hinreichendes organisches Korrelat oft im Sinne funktioneller Störungen diagnostiziert. Syndrome wie Fibromyalgie, chronisches Erschöpfungssyndrom (auch Chronic Fatigue Syndrome oder myalgische Enzephalomyelitis), chronische Schmerzen oder das Reizdarmsyndrom kennzeichnen sich durch bestimmte Muster somatischer Symptome, die sich dabei oft auf bestimmte Organsysteme beziehen.
Fischer / Nater 2012 geben einen detaillierteren Überblick über funktionelle Syndrome.
Es erfolgt dann je nach Lokalisation der körperlichen Beschwerden eine Diagnosestellung, die in die entsprechende medizinische Fachdisziplin fällt. Funktionelle somatische Symptome können auch bei Menschen mit einer schweren körperlichen Erkrankung auftreten.
Zum Beispiel können nach einem Herzinfarkt oder einer Herzoperation muskuläre Brustschmerzen von Patienten als Hinweis auf eine Angina pectoris fehlinterpretiert werden, was dann zu unnötiger Sorge und Belastung führt (Mayou / Farmer 2002).
Obwohl die einzelnen Kategorien funktioneller Syndrome für die tägliche medizinische Praxis nützlich sein können, zeigen aktuelle Studien, dass erhebliche Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zwischen diesen einzelnen Syndromen bestehen (Chalder / Willis 2017).
Bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen (z. B. Angststörungen, affektive und somatoforme Störungen) liegt der Fokus hauptsächlich auf psychischen Prozessen. Wenn gleichzeitig somatische Symptome vorhanden sind, geht es bei der Diagnostik um die Art und Anzahl dieser Symptome, und zwar unabhängig davon, auf welches Organsystem sie sich beziehen. Beispielsweise gehen psychische Beschwerden im Zusammenhang mit einer Depression oder Angststörung begleitend häufig mit somatischen Symptomen einher, die sich dann durch eine wirksame Behandlung der psychischen Störung oft ebenfalls bessern. In Fällen, in denen die belastenden Körperbeschwerden vordergründig sind, ist die geeignetste Diagnose dann die einer somatoformen Störung (bzw. aktueller Begriff laut ICD-11 und DSM-5: „somatische Belastungsstörung“; Levenson et al. 2018).
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