Neuerungen in der Klassifikation
In der 2013 erschienenen 5. Auflage des „Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen“ (DSM-5) der American Psychiatric Association wurden die Somatisierungsstörung, die undifferenzierte somatoforme Störung, die Hypochondrie und die Schmerzstörung als Diagnosen abgeschafft. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor eine dieser Diagnosen erhielten, erfüllen mit ihren Symptomen nun die Kriterien der so genannten somatischen Belastungsstörung (englische Übersetzung: Somatic Symptom Disorder).
In der 2018 von der WHO in Genf vorgestellten Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation – 11. Revision (ICD-11) wurde die diagnostische Kategorie der somatoformen Störungen ebenfalls ersetzt, und zwar durch die so genannte Bodily Distress Disorder; in der deutschen Übersetzung soll die neue Diagnose ebenfalls somatische Belastungsstörung heißen. Die Kriterien sind den im DSM-5 beschriebenen inhaltlich sehr ähnlich und gehen entsprechend mit denselben Veränderungen und Implikationen einher.
neue Diagnose der somatischen Belastungsstörung
Die ICD-11 wurde 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind allerdings derzeit noch keine Aussagen möglich. Solange behält die ICD-10 der WHO im deutschen Gesundheitssystem für die Kodierung von (psychischen) Erkrankungen und die Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen ihre Gültigkeit. Entsprechend behalten auch die „somatoformen Störungen“ ihre Berechtigung in der Klassifikation anhaltender und belastender Körperbeschwerden.
Hypochondrie als Diagnose abgeschafft
Die somatische Belastungsstörung mit körperlichen Beschwerden sowie symptombezogenen Ängsten und Befürchtungen ist gemäß DSM-5 von der Krankheitsangststörung abzugrenzen, bei der die Überzeugung vorherrscht, an einer ernsthaften Krankheit zu leiden, ohne dass gleichzeitig körperliche Symptome präsent sind (APA 2013). Im DSM-IV erfüllten Patientinnen und Patienten, die ein oder mehrere körperliche Symptome fälschlicherweise im Sinne einer schwerwiegenden Krankheit interpretierten oder glaubten, dass sie trotz anders lautender medizinischer Bewertung und Beruhigung mit Ängsten vor einer schlimmen Erkrankung beschäftigt waren, die Diagnose einer Hypochondrie. Von denjenigen Patientinnen und Patienten, bei denen zuvor eine Hypochondrie diagnostiziert wurde, werden nun ca. 80 % unter die DSM-5-Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (wenn körperliche Beschwerden vorhanden sind) und ca. 20 % unter die DSM-5-Diagnose einer Krankheitsangststörung (wenn körperliche Beschwerden minimal oder gar nicht vorhanden sind) subsumiert (Bailer et al. 2016; Abb. 1.5).
Die neuen diagnostischen Konzepte tragen der Tatsache Rechnung, dass ca. 30 % der Patientinnen und Patienten in der allgemeinmedizinischen Versorgung körperliche Symptome haben, durch die sie sich erheblich gestresst und im Alltag (Familie, Beruf, Freizeit) eingeschränkt fühlen. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen beschäftigten sich in ihrem Praxisalltag also mit körperlichen Symptomen, die häufig erst dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patientinnen und Patienten aufgrund von mit den Symptomen assoziierten dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen einen Leidensdruck verspüren und deshalb überhaupt erst medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Körpersymptome werden nun als eigenständige klinische Entität ernst genommen, weil sie entsprechend zu weitreichenden Einschränkungen bei den Betroffenen, bis hin zur Invalidisierung in allen wichtigen Alltagsbereichen führen können (Känel et al. 2016).
Abb. 1.5: Reduktion der diagnostischen Kategorien von DSM-IV zu DSM-5 (nach Dimsdale et al. 2013)
Kennzeichen einer somatischen Belastungsstörung
Für die neue Diagnose genügt bereits ein einziges chronisches körperliches Symptom (z. B. Schmerz, Schwächegefühl oder Kurzatmigkeit), das zu einer erheblichen Funktionseinschränkung in wichtigen Lebensbereichen führt. Die somatische Belastungsstörung ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass die somatischen Symptome von einer unverhältnismäßig ausgeprägten gedanklichen, emotionalen oder verhaltensmäßigen Beschäftigung mit diesen Symptomen begleitet werden. Außerdem verursachen die Symptome eine erhebliche Belastung und / oder Funktionseinschränkung im Alltag (Dimsdale / Levenson 2013).
Die somatischen Symptome können dabei durch eine zugrunde liegende somatische Grunderkrankung erklärbar sein oder auch nicht. Die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung wird unabhängig von der Ursache der körperlichen Beschwerden gestellt. Damit entfällt die stigmatisierende und häufig nicht mit Sicherheit zu treffende Unterscheidung zwischen somatoformen (medizinisch unerklärten, „psychogenen“) und somatischen (organmedizinisch begründeten) Symptomen (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013; Känel et al. 2016). Entsprechend der neuen Kriterien können auch bei Vorliegen einer somatischen Grunderkrankung (z. B. Asthma) anhaltende Sorgen und Ängste (hier bezogen z. B. auf eine mögliche Luftnot mit Erstickungsgefahr), die Diagnose rechtfertigen.
Abb. 1.6: Klassifikationskriterien der somatischen Belastungsstörung (300.82) nach DSM-5 (APA 2013)
keine reine Ausschlussdiagnostik
Die Diagnose kann nicht vergeben werden, nur weil eine medizinische Ursache für ein körperliches Symptom nicht identifiziert werden kann (im Sinne einer Ausschlussdiagnostik). Der Fokus liegt jetzt auf dem Ausmaß, in dem die mit den Körperbeschwerden verbundenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen übertrieben oder unverhältnismäßig erscheinen (Dimsdale / Levenson 2013).
Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen die Kriterien A, B (mindestens eine der drei aufgeführten psychologischen Dimensionen) und C aus Abb. 1.6erfüllt sein.
In der ICD-11 werden die diagnostischen Kriterien zum aktuellen Zeitpunkt wie folgt beschrieben:
ICD-11: 6C40 Bodily Distress Disorder (somatische Belastungsstörung, übersetzt nach WHO 2018)
Die Somatische Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein belastender körperlicher Symptome, auf die eine übermäßige Aufmerksamkeit gerichtet ist, was sich in wiederholtem Kontakt mit medizinischen Leistungserbringern manifestiert. Wenn eine andere Erkrankung die Symptome verursacht oder dazu beiträgt, ist der Grad der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Natur und den Verlauf der Symptome eindeutig übertrieben.
Die übermäßige Aufmerksamkeit wird auch nicht durch geeignete klinische Untersuchungen und angemessene Beruhigung abgemildert. Die körperlichen Symptome sind andauernd, d. h. an den meisten Tagen mindestens über mehrere Monate vorhanden. Typischerweise treten mehrere körperliche Symptome auf, die über die Zeit variieren können. Möglicherweise liegt auch nur ein einzelnes Symptom – oftmals Schmerzen oder Müdigkeit, die mit den anderen Merkmalen der Störung assoziiert sind – vor.
Erste empirische Überprüfungen der neuen DSM-5-Diagnose ergaben, dass sowohl die Reliabilität, die Validität als auch die klinische Nützlichkeit bei der somatischen Belastungsstörung den Gütekriterien der somatoformen Störungen nach DSM-IV überlegen sind (Dimsdale et al. 2013).
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