Binet-Tests wurden bis 1985 relativ häufig verwendet. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass der aufgrund der Binet-Tests bestimmte IQ kein Standardwert ist, „sondern ein Quotient aus einem Maß für intellektuelle Entwicklung, dem Intelligenzalter und dem Lebensalter“ ist. Der IQ von 1.00 bzw. 100 stellt nicht notwendigerweise den Mittelwert der IQ-Verteilung dar. Damit zeigen sich gewisse unsichere Implikationen, die mit der Verwendung der genannten Tests verbunden sind.
Wichtige Richtungen der weiteren Entwicklung von Tests:
1. Weiterentwicklung bisheriger Verfahren, Neuentwicklungen unter Einbezug des Säuglings bis zum Schulkind: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang z. B. Namen wie Arnold Gesell (Beobachtung der Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes hinsichtlich Motorik, Reizanpassung, Lallen, ersten sprachlichen Äußerungen und sozialem Kontakt seit 1925), Charlotte Bühler sowie Hildegard Hetzer (Erfassung der kindlichen Entwicklungsstufen aus den wesentlichen Merkmalen der Körperbewegung, der sinnlichen Rezeption, Sozialität, Materialbeherrschung und Denkleistung seit 1928), Lotte Schenk- Danzinger (Entwicklungstests für Kinder vom 5. bis 11. Lebensjahr), Inge Flehmig u. a. (Denver-Entwicklungsskalen), Ernst J. Kiphard (Sensomotorisches Entwicklungsgitter für die Entwicklungsbereiche optische Wahrnehmung, Handgeschicklichkeit, Körperkontrolle, Sprache, akustische Wahrnehmung für das Alter von 6 bis 48 Monaten), Reimer Kornmann (Testbatterie für entwicklungsrückständige Schulanfänger).
Dorsch (1963, 55) nennt noch die Entwicklung von „Spieltests“, die jedoch auch als projektive Verfahren Verwendung finden, wie z. B. von Gerhild v. Staabs den „Scenotest“, von Margaret Lowenfeld das „Weltspiel“ und von Charlotte Bühler den „Welttest“.
2. Entwicklung sprachunabhängiger Tests (nonverbale Verfahren): Diese Verfahren reichen zurück bis zu den Formbrettern (Einlegebrettern), die bereits 1866 von einem französischen Arzt zum Training von „Schwachsinnigen“ benützt wurden (Dorsch 1963, 55).
Als in der heutigen Zeit Verwendung findende nonverbale Verfahren kann man beispielsweise nennen den „Progressiven Matrizentest“ von Raven (1947, 1975), Tests zur Erfassung der Grundintelligenz von Weiss und Cattell (1997), evtl. auch Teile aus dem Intelligenztest von Kramer (1972) und den „Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder“ von Wechsler (Hawik-Revision 1985, WISC-IV 2011).
3. Entwicklung analytischer Intelligenztests: Der Intelligenzquotient geht bei diesen Tests nicht etwa auf das Intelligenzalter zurück, vielmehr auf bestimmte Intelligenzfunktionen, die hinsichtlich ihrer Verteilung auf statistischem Wege mit Leistungsmittelwerten verglichen werden. Hierzu gehören die von Meili (1971) und Thurstone und Thurstone (1953) herausgegebenen Testserien sowie die von Wechsler 1939 entwickelte und erprobte Intelligenz-Skala für Erwachsene und der Intelligenzstrukturtest (IST) von Amthauer (1955).
4. Die Entwicklung von Gruppentestverfahren: Aus der praktischen Notwendigkeit heraus, möglichst schnell qualifizierte Personen für bestimmte Aufgaben der amerikanischen Armee auszulesen, wurden Gruppentests entwickelt (Army-Alpha-Test; er setzt englische Sprachkenntnisse und Lesefähigkeit voraus. Army-Beta-Test als sprachfreier Test).
Gruppentests wurden wohl erstmals von W. Stern entwickelt. Gruppentests sind z. B. der bereits genannte Intelligenz-Struktur-Test (IST) von Amthauer (1955), das Begabungs-Test-System (BTS) von Horn (1972), der Grundintelligenztest von Weiß und Cattell (1997), die speziell zur Überprüfung von schulleistungsschwachen Schülern entwikkelte „Schulleistungsbatterie für Lernbehinderte und für schulleistungsschwache Grundschüler“ (SBL 1 und SBL 2) von Kautter und Storz (2000, SBL 2 2002).
Es gibt zahlreiche Gruppenverfahren, die auch für den sonderpädagogischen Bereich Bedeutung haben, wenn es beispielsweise um Intelligenz-, Schul-, Wahrnehmungsleistungen oder um die Erfassung von Feinmotorik und Händigkeit geht.
Gruppentests haben den Vorteil, dass sie unter gleichen Bedingungen durchgeführt und in gleicher Weise ausgewertet werden, dass alle untersuchten Individuen die gleiche Anweisung erhalten, diese Tests ganz global ausgedrückt objektiver und ökonomischer zu handhaben sind.
Zusammenfassung
Die ersten Versuche, Intelligenz zu erfassen und messbar zu machen, wurden unter Einbeziehung geistiger, physiologisch motorischer und perzeptiver Leistungen unternommen. Anregungen lieferten neben der Psychologie und Medizin (spez. Psychiatrie) vor allem auch die Mathematik und Physik. Der Gedanke, vom „durchschnittlichen“ Individuum, von „durchschnittlichen“ Leistungen und von Abweichungen vom Durchschnitt auszugehen, gewann stärker an Bedeutung.
Binet bezog in sein „Staffelsystem“ die Idee einer relativen Übereinstimmung von Intelligenzleistungen und Lebensalter ein. Sein Stufentest wurde verbreitet und weiterentwickelt in den USA, in Deutschland, in der Schweiz und in zahlreichen anderen Ländern. Mit der Einführung des „Intelligenzquotienten“ (IQ) durch William Stern (1912) wurde ein heute noch gebräuchliches Maß für die Messung der Intelligenz geschaffen. Die Methoden der Intelligenzerfassung fanden unter Einbezug sogenannter Gruppen- und nonverbaler Verfahren rasche Verbreitung.
Im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich wäre die Entwicklung von „Verfahren“ zur Einschätzung der kognitiven Möglichkeiten eines Kindes unter Einbezug von Handlungen aus dem Bereich seiner bisherigen Umwelt, also in seiner natürlichen Umgebung, wünschenswert. Hierbei einen gangbaren Mittelweg zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Beobachtung auch im Sinne qualitativer Diagnostik zu finden (Bundschuh 2019, 58 ff., Kap. 5.5.2), könnte eine zukünftige pädagogische Aufgabe sein. Die Kritik am Intelligenzbegriff hat auch zu einer deutlichen Verunsicherung der Intelligenzdiagnostik insbesondere im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld geführt.
Psychologische Diagnostik gilt zunächst als ein Teilgebiet der Psychologie, speziell der angewandten Psychologie. Diagnostik umfasst die Gesamtheit der Verfahren und Theorien, die dazu dienen, Verhalten und psychische Prozesse einzelner Personen oder auch Gruppen zu erforschen. Diagnostik hatte im Rahmen sonder- oder heilpädagogischer Problemstellungen schon immer eine große Bedeutung, wurde aber auch kritisch hinterfragt.
Die Erwartungen an die Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld, speziell auch bezüglich der Kinder mit mehrfachen und komplexen Problemen im Lernen und Verhalten bis hin zu Mehrfachbehinderungen, erweisen sich als hoch. Diese Erwartungen im Sinne des Auffindens optimaler Förderungswege in Richtung Therapie und „Heilung“ sind nicht immer ganz erfüllbar. Dennoch wird eine kinderorientierte, d. h. für die wirklichen Probleme eines Kindes und seines sozialen Umfeldes offene heilpädagogische Diagnostik gute Dienste im Rahmen des Entwicklungs- und Erziehungsgeschehens leisten, vor allem durch die Möglichkeiten der Informationsgewinnung zur differenzierten Beschreibung des Verhaltens und der Lernausgangslage bei Kindern mit einem besonderen Förderungsbedarf, der Diagnose behindernder Bedingungen sowie den daraus hervorgehenden Ansätzen zu deren Beseitigung in Verbindung mit Beratung, Förderung, ggf. Therapie. Insofern nimmt die Beschäftigung mit diagnostischen Fragestellungen angesichts der Zunahme von Not- und Problemsituationen bei Kindern und Jugendlichen auch in einer Zeit des Umbruchs und Wandels im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld einen wichtigen Platz ein.
Diagnostik erhält auch eine neue Bedeutung im Rahmen der Erstellung von Förderplänen (Kap. 6.6.3) sowie der herausfordernden Fragen nach Integration und Inklusion (Bundschuh 2010, 91–99; 2019) bis hin zu Möglichkeiten von Therapien (Bundschuh 2008, 242–302), speziell auch Lerntherapie (Metzger 2008).
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