Sonderpädagogische Diagnostik kann wohl nicht ganz auf die Verwendung normierter und standardisierter Verfahren verzichten. Der Gedanke der direkten Modelle erweist sich als sehr positiv.
Realistisch erscheint die Forderung, dass ein mit sonderpädagogischen Maßnahmen konfrontiertes Kind – sei es in der Vorschule, Regel- oder Förderschule – fortwährend hinsichtlich seiner Entwicklung beobachtet, dass es in prozessualer Form förderdiagnostisch begleitet wird, dass mindestens jährlich eine gründlichere förderdiagnostische Untersuchung mit allen Möglichkeiten der Neuorientierung angesetzt wird.
Förderdiagnose zielt hin auf Förderung und Hilfe im pädagogischen Bereich, auf Integration im sozialen Bereich unter Einbezug der Familie und der übrigen sozialen Umwelt, auf Entwicklung und Entfaltung im psychischen Bereich, auf Heilung und Therapie im Allgemeinen, soweit dies im sonderpädagogischen Feld möglich sein kann, wobei auf die enge Verflechtung und Verzahnung der angesprochenen Bereiche hinzuweisen ist. Förderung hat immer die Ganzheit eines Kindes und sein Umfeld im Auge zu behalten (Bundschuh 2019, 91–94).
Während sich im Zusammenhang mit Früherkennung und weiteren Maßnahmen bei Kindern mit Förderbedarf geistige Entwicklung, Förderbedarf Bewegung und Motorik und bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen „Förderdiagnose“ auf dem Weg der Realisierung befindet, müssen im Zusammenhang mit Kindern mit Förderbedarf Lernen Neuüberlegungen, Reformen, Neustrukturierungen, Veränderungen in Richtung Präventivmaßnahmen unter Einbeziehung der Familien, ferner Durchlässigkeit und Dynamik im Sinne integrativer Unterrichtung und Inklusion eintreten. Die neue Bezeichnung „Förderbedarf Lernen“ deutet dies an, diesen Bedarf haben an sich alle Kinder, häufig auch die Erwachsenen.
Zusammenfassung
Psychodiagnostik im herkömmlichen Sinn zielt auf Erkundung der individuellen psychischen Struktur, der einem Individuum zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften. Sie bedient sich ganz bestimmter Verfahren (Anamnese, Exploration, Verhaltensbeobachtung, Tests, Fragebögen, Screenings).
Diese Diagnostik orientierte sich in hohem Maße am Medizinischen Modell, d. h., Störungen sind Sache des Individuums, sie werden durch bestimmte Ursachen im Bereich des Individuums hervorgerufen. Die Erkennung und Beseitigung dieser im Individuum liegenden Ursache führt zur Therapie (Bundschuh 2019, 47–49).
Tab. 2: Gegenüberstellung Einweisungsdiagnostik – Förderdiagnostik
Abgelöst wird diese Diagnostik, die Defizite und Störungen in der Person selbst sucht, durch eine an soziologische und sozialwissenschaftliche Gedanken orientierte Vorgehensweise, d. h. verursachende Momente einer Störung (Schulversagen, Verhaltensstörungen) werden vor allem im Kommunikationsbereich des Individuums gesucht, z. B. im Familienmilieu, im Bereich der Schule, in der sozialen Umwelt überhaupt durch Etikettierungs-, Stigmatisierungsprozesse und durch Rollenzuweisung („er ist aggressiv, unruhig, faul“; „er geht aus dieser Familie hervor“, „er kommt aus dieser Gegend“). Systeme können behindern (Bundschuh 2019, 64 ff.; 2008, 326–331).
Der Gegenstandsbereich der sonderpädagogischen Diagnostik steht in enger Beziehung zu in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, physischen Entwicklung gefährdeten oder beeinträchtigten Personen, wobei stets der Interaktions- und Umweltbereich impliziert ist. Zumeist wird es sich dabei um Kinder / Schüler handeln, die sonder- und heilpädagogische Diagnostik kommt jedoch auch bei Personen aller Altersgruppen zur Anwendung, Handlungsbedarf liegt jedenfalls im Kontext Beeinträchtigungen / Behinderungen – vor allem mit zunehmendem Alter – vor.
Die Aufgaben fordern vom Sonder- und Heilpädagogen neben einer Kenntnis der Entwicklungsprozesse (Bundschuh 2008, 87–168) Informationen über Verursachungsmomente, Bedingungen und Formen von Beeinträchtigungen sowie Möglichkeiten der Förderung und Therapie (Bundschuh 2008, 242–302).
Die ursprünglich als Hauptaufgabe gesehene Diagnose als Entscheidung für bestimmte Maßnahmen meist selektiver Art wird abgelöst durch den Prozess der Förderung. Diagnose und Förderung können nicht mehr getrennt gesehen werden, stellen eine Einheit dar und müssen permanent unter Einbezug der Umwelt und deren Interaktionen als Prozess stattfinden. Somit müssen die Tendenzen, im pädagogischen Bereich von einer Selektionsstrategie zu einer Modifikationsstrategie zu kommen, verstärkt und weiterentwickelt werden.
Der Sonderschullehrer trug mit „seiner Diagnose“ und Entscheidung „Sonderschulbedürftigkeit“ ein kaum vertretbares Maß an Verantwortung. Sollte sich der Gedanke der Förderdiagnostik auch im schulbürokratischen und schulbehördlichen Bereich hinsichtlich mehr Offenheit, Flexibilität und Dynamik auch hinsichtlich der Frage nach der Integration weiter durchsetzen, werden sich die Probleme, die sich bisher im Rahmen der „Überprüfung auf Sonderschulbedürftigkeit“, jetzt Förderschulbedürftigkeit bzw. Frage nach dem individuellen Förderbedarf, ergaben, erheblich neutralisieren. Sonderpädagogische Diagnostik erhält ihre Legitimation nur aus den Aspekten Verstehen und Förderung (Bundschuh 2007, 77–144), sie darf keinesfalls statischen, vielmehr nur dynamischen Charakter haben.
Alternativmodelle zur herkömmlichen Diagnostik orientieren sich in hohem Maße am schulischen Geschehen (Verhalten, Lernziele, Curricula). Es zeigt sich, dass es eine Reihe von Ansätzen gibt, die zahlreichen Probleme einer traditionellen Diagnostik, die sich weitgehend als statische Diagnostik, Selektionsdiagnostik, Merkmals- und Eigenschaftsdiagnostik erwiesen hat und somit eher Festschreibungen und defizitäre Beschreibungen im Zusammenhang mit sonder- oder heilpädagogischen Problemstellungen lieferte (anstelle von Förderungsimpulsen), zu überwinden.
Mit der Veränderungsdiagnostik verfolgt man das Ziel, durch den Vergleich zweier oder mehrerer Zustände im Zeitverlauf eine Aussage über Veränderungen oder Stabilität von Merkmalen zu treffen. Unter pädagogischem und psychologischem Aspekt betrachtet geht es dabei meist auch um einen Prozess zwischen Ist- und Sollzustand. In der Regel wird die erzielte Veränderung als Folge eines natürlichen Prozesses (z. B. Wachstum, Reifung, Lernen), einer Intervention (z. B. pädagogische Förderung, Psycho- oder Pharmakotherapie) oder situationsbedingter Variabilität (z. B. Tagesereignisse) interpretiert. Vorhaben zur Veränderungsdiagnostik setzen gezielte Annahmen über Entwicklungs- und Interventionsverläufe sowie Situationseinflüsse voraus. Diese Annahmen können nur überprüft werden, wenn adäquate, veränderungssensitive Erhebungsverfahren vorliegen, die Veränderungen – zuverlässig – abbilden können. Letztlich hängt die Entscheidung darüber, wann und wie oft eine Verhaltensweise bzw. auch ein Merkmal im Verlauf einer Zeitspanne erhoben werden soll, von bestimmten Annahmen über Entwicklungen und den damit zusammenhängenden psychologischen Prozessen ab, die erfasst werden sollen.
Die neueren Entwicklungen führen weg von der statischen, indirekten Vorgehensweise über den Einbezug behavioristischer, sozialwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und anthropologischer Einflüsse im weiten Sinne hin zu einer lernorientierten, „direkten“ Diagnostik. Häufig bestand nur Interesse an dem, was „ist“, im weitgehend statischen Sinn (Persönlichkeitsmerkmale und -eigenschaften). Dieser Aspekt erweitert sich nun in Richtung was „soll“, und wie dieses „Soll“erreicht werden kann. Der Schwerpunkt der neueren Ansätze liegt auf dem Moment der Information zwecks Handeln und Förderung, d. h., intendiert wird primär der Fortschritt der Persönlichkeit durch Erweiterung der Handlungskompetenz (Bundschuh 2008, 218–224; 2019).
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