Direkte Modelle stellen die pädagogische Problemanalyse in den Mittelpunkt, wobei zwischen curricularem, Interaktions- und Modifikationsaspekt unterschieden wird.
Sonderpädagogische Diagnostik, orientiert an direkten Modellen, geschieht also auf der Grundlage der Analyse und Strukturierung der Lernziele und Kenntnisse des Unterrichtsverlaufsgeschehens. Die gegenwärtig diskutierten und auch versuchsweise erprobten alternativen diagnostischen Konzepte im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich orientierten sich in hohem Maße an dem aufgezeigten Gedanken direkter Modelle, wobei die wesentlichen Schwerpunkte in dem erweiterten diagnostischen Prozess, in den unmittelbar an die Diagnose anschließenden Interventions-, Handlungs- und Evaluationsstrategien liegen.
Verschiedene Beiträge vergleichen und bewerten herkömmliche Diagnostik mit neueren förderungsorientierten Ansätzen (Barkey 1975; Eggert 1975). Kautter (1975) hält die am Medizinischen Modell orientierte Diagnostik für Selektionsentscheidungen für den „gegenwärtigen Zustand“ und strebt eine an den Förderungsbedürfnissen orientierte Diagnostik an.
Kobi stellt (1977, 115–123) richtungsweisend in 28 Thesen „Einweisungsdiagnostik“ und „Förderdiagnostik“ gegenüber. Es fällt schwer, die wesentlichen Inhalte dieser sehr systematisch aufgezeigten Thesen hier darzulegen, denn alle implizieren hohe Relevanz. Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, die aus der Sicht des Verfassers bedeutsamsten Momente der Förderdiagnostik (FD) vorzustellen:
– „Die Förder-Diagnostik entwickelte sich in kritischer Distanznahme von der Einweisungs-Diagnostik im Zuge verschiedener Theorien des Lernens und der Verhaltensmodifikation, des Integrationsgedankens, der Bestrebungen um Frühförderung, der Kommunikationsforschung etc.…“ (These 1).
– „Im Vordergrund stehen kriterienorientierte, curriculare und modifikatorische Interventionsfragen“ (These 2).
– „Paradigma für die FD ist die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, welche ein definiertes Lernziel mittlerer Reichweite anstreben“ (These 3).
– „FD findet ihre Zweckbestimmung in der Förderung und hat ihren Bezugsrahmen in einem Fluß-System. Je dynamischer, durchlässiger und anverwandlungsfähiger ein solches System (z.B. Gesamtschule) ist, umso eher kann FD individualisierte, ad personam konkretisierte und problemzentrierte Innovationen (z.B. orthodidaktischer oder verhaltensmodifikatorischer Art) vornehmen“ (These 6).
– „FD ist topologisch und relational orientiert. D.h., sie ist nach einem pädagogischen Denkmodell an der Ortung von Störungsherden und der Herstellung optimaler Arrangements interessiert“ (These 7).
– „Grundlegend ist ein ökologisches Interaktions-Modell; das zur Diskussion stehende Kind wird – wie alle übrigen Personen – als integrierendes Unterganzes eines Kommunikationssystems gesehen“ (These 9).
– „In der FD werden das Subjekt, seine Leistungen und sein Verhalten im Bezugssystem seiner gegenwärtigen Lebensumstände und deren Anforderungen gesehen und ,fest’ gestellt. FD ist an intraindividuellen Unterschieden interessiert“ (These 10).
– „Personen werden nicht auf einen Objektstatus reduziert, sondern als Subjekte interpelliert: sowohl während der Situationsanalyse wie auch während des Meinungsbildungsprozesses bzgl. des Interventionskonzepts“ (These 11).
– „Wichtiger noch als die (Leistungs-)Produkt-Analyse ist die (Lern-)Prozeß-Analyse: Der Frage, wie groß und welcher Art die Abweichungen von einer Erwartungsnorm sind, ist die Frage übergeordnet, über welche Wege und Marken derartige Abweichungen zustande kommen“ (These 13).
– „FD ist nicht ein Akt, sondern ein Prozeß. Kontinuierliche Situationsanalysen innerhalb der Interventionen weisen FD als Begleit-Diagnostik aus. Sie ermitteln Daten und Fakten, die in einem direkten Bezug stehen zu heilpädagogisch-orthodidaktischen Interventionen und Innovationen“ (These 14).
– „Subjektive Bezüge und die Eigenwelt der Person werden in ihrer existentiellen Bedeutung ernst genommen. Die Maske der Objektivität wird fallen gelassen; an deren Stelle tritt eine unverhüllte und möglichst dichte Subjektivität …“ (These 15).
– „FD begibt sich in den Lebens- und Erlebensraum ihrer Probanden oder Konfliktpartner, und sie versucht diesen auf den subjekthaften Realitätsebenen zu begegnen. Subjekte werden in jener Umgebung, von der sie sich abheben, interpelliert und zur Selbstdarstellung eingeladen …“ (These 16).
– „FD ist lifespace-(Lebensraum-)Diagnostik: Sie findet an jenem Ort und unter jenen Umständen statt, wo ein Kind angeblich versagt oder sich bewähren sollte“ (These 18).
– „Diagnostik und pädagogische Intervention bilden eine untrennbare Einheit innerhalb interaktionalen Kreis- und Gestaltungsprozessen“ (These 21).
– „Die diagnostische Situation ist offen: Kind, Eltern, Lehrer wird der diagnostische Prozeß einsehbar (transparent) gemacht. Es wird, wenn immer möglich, vermieden, daß zwischen den Beteiligten so etwas wie ein Arzt-Geheimnis Platz greift.,Offene Akten‘!“ (These 22).
– „(Etappen-)Ziele gelten als erreicht, wenn alle Beteiligten aufgrund einer Alternativen-Prüfung sich auf gemeinsamer Vertragsbasis einigen können und wenn eine Diagnose neue Perspektiven eröffnet“ (These 23).
– „Die Verantwortung ist grundsätzlich unteilbar – auch dann, wenn – gewisse Aufträge, klar umschrieben, an einzelne Personen abgegeben werden. Die Erfüllung des persönlichen Auftrags entbindet nicht von der Gesamtverantwortung! – Dem Kind, den Eltern, der Lehrerschaft, den Behörden wird je die Entscheidungssituation und die mit den getroffenen Entscheidungen verbundenen Konsequenzen transparent gehalten …“ (These 24).
– „FD sieht in ihrem Probanden einen Schüler (im weitesten Sinne), d. h. ein in einem Auszeugungsprozeß befindliches Subjekt, mit dem zusammen Lernperspektiven zu entwerfen sind. – Dieses werdende Subjekt ist der FD vieldeutig. Was sie vornimmt, ist eine Art Spektralanalyse, d. h. ein Aufweisen verschiedener Ziele und Wege, – zwischen denen das Subjekt im Extremfall nach einem analogen (fließenden, nahtlosen) Entscheidungssystem sich frei bewegen kann …“ (These 25).
– „FD zielt auf Fazilitation, erfaßt problemzentriert Interaktionsprozesse und ist durch ein systemanalytisches Vorgehen charakterisiert. Sie orientiert sich an einem Flußmodell, welches keine starren und unverrückbaren Grenzen aufweist“ (These 27).
– „FD kann sich hingegen in einem rigiden Schachtel-System kaum entfalten. Systemimmante Barrieren legen sich der Realisierung gezielter Förderprogramme hindernd in den Weg …“ (These 28).
Kobi zeigt damit bereits eine dynamische und prozessuale Vorgehensweise von Förderdiagnostik auf, deren Realisierung ohne Einschränkung wünschenswert ist. Die Hauptbarriere einer Verwirklichung solcher Gedanken liegt – wie Kobi bemerkt – in der Struktur der Schulsysteme. Der Autor meint abschließend zu den aufgestellten Thesen: „Es wird gezeigt, dass Förderdiagnostik aus heilpädagogischer Sicht zwar dringend notwendig wäre, innerhalb eines rigiden (Schul-)Systems jedoch nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten hat“ (1977, 123).
Erfasst werden somit Veränderungen und deren Bedingungen. Weiterhin ergeben sich alle handlungs- und entscheidungsrelevanten Daten aus direkter Beobachtung aller am Interaktionsprozess beteiligten Personen, einschließlich des gesamten situativen Kontextes. Ziel der Diagnostik ist es, Informationen zur Optimierung schulischer Lehr-, Lern- und Interaktionsprozesse zu erhalten. Die zu stellende Frage lautet: Versucht nicht der interessierte, am Schüler orientierte Lehrer im Unterricht ohnehin eine Realisierung dessen, was mit „direkten Modellen“beschrieben wird? Der Lehrer informiert, lässt erarbeiten, diskutiert, evaluiert, setzt zusammen mit den Schülern neue Ziele, um nur einige Tätigkeiten anzuführen. Der angesichts bekannter Probleme in Schulen und Schulklassen versuchsweise schülerorientiert arbeitende Lehrer fühlt sich jedoch ständig überfordert.
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