1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 In der Schweizspricht man von „Fürsorglicher Freiheitsentziehung“ (Art. 397 ZBG), die bei bestimmten medizinischen oder psychosozialen Voraussetzungen angewandt werden kann, um Betroffene in eine geeignete Anstalt zu bringen oder zurückzubehalten. Das Recht zur unmittelbaren Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung ist in den einzelnen Kantonen jedoch unterschiedlich geregelt. Vorläufige Einweisungen können von KantonsärztInnen, von den praktizierenden ÄrztInnen oder von den Gesundheitsämtern ausgehen. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, ist die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen notwendig und der Patient muss wieder entlassen werden, sobald es das Zustandsbild erlaubt. Ein ärztliches Zeugnis muss neben der psychopathologischen Symptomatik auch Angaben über deren vermutliche Ursache und über die zu erwartenden Folgen für die betroffene Person oder Dritte enthalten.
K. Paulitsch
1Psychopharmakotherapie
1.1Einleitung
Psychopharmaka sind Substanzen, die auf cerebrale Strukturen einwirken (psychotrope Substanzen). Sie regulieren Hirnfunktionen und modifizieren psychische Abläufe. Die Wirkung entfaltet sich an den Synapsen (Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen) durch Beeinflussung der Botenstoffe (Neurotransmitter). Diese Überträgersubstanzen regulieren die neuronale Erregung und elektrische Weiterleitung zwischen den einzelnen Nervenzellen. Die wichtigsten durch Psychopharmaka beeinflussbaren Neurotransmitter sind Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Acetylcholin und GABA (Gammaaminobuttersäure). Sie werden in kleinen Bläschen (Vesikeln) in den Nervenenden gespeichert und besetzen, nachdem sie durch einen elektrischen Impuls freigesetzt wurden, den nachgeschalteten Rezeptor einer benachbarten Nervenzelle. Im synaptischen Spalt erfolgt entweder der Abbau der Überträgersubstanzen oder sie werden wieder in die Bläschen der Nervenenden aufgenommen und inaktiviert.
Wirksame Psychopharmaka wurden erst in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts entdeckt. Den Durchbruch schaffte das 1952 entwickelte Chlorpromazin durch Jean Delay und Pierre Deniker, die zufällig die antipsychotische Wirkung der Substanz entdeckten. Bis dahin konnten Symptome psychisch kranker Menschen nur unspezifisch mit Opium, Alkohol oder Barbituraten gelindert werden. Bald nach Entwicklung des ersten Neuroleptikums (Antipsychotikums) Chlorpromazin wurde 1954 Meprobamat als erster Tranquilizer und 1957 von Roland Kühn das erste Antidepressivum (Imipramin) entwickelt. Die antimanische Wirkung von Lithium wurde bereits 1949 von John Cade entdeckt und 1967 seine phasenprophylaktische Wirkung.
Seither gehören Psychopharmaka zu den am häufigsten verordneten Medikamenten, obwohl in der Bevölkerung falsche Vorstellungen über deren Wirkungsweise bestehen. „Chemische Zwangsjacke“, „Pillenkeule“, „mit Medikamenten vollgestopft“ sind nur einige negative Attribute für die Pharmakotherapie. Die Vorurteile Medikamenten gegenüber führen allzu oft zur Stigmatisierung jener Personen, die diese zur Behandlung dringend benötigen. Nach Meinung aber fast aller psychiatrischer und psychiatriehistorischer Forscher hat die Entwicklung der Psychopharmaka in den 50er-Jahren wesentlich zu den Reformen in der Psychiatrie und zur „Öffnung“ der Anstalten beigetragen. Viele psychische Erkrankungen wie Psychosen, Depressionen, Angsterkrankungen, Schlafstörungen oder Erregungszustände können durch Medikamente effizient behandelt werden. Im klinischen Alltag sind daher Psychopharmaka unentbehrlich. Die Behandlungsstrategien sind in den letzten Jahren differenzierter geworden, aber man ist noch weit davon entfernt, über ein passendes Medikament für jede psychische Störung zu verfügen und die biochemischen Zusammenhänge im Einzelnen zu verstehen. Die Verordnung erfordert viel Erfahrung, setzt einen Gesamtbehandlungsplan voraus und soll nur bei bestehender Indikation erfolgen. Grundlage ist eine gute Arzt-Patient-Beziehung, in der psychosoziale Hintergründe und die Persönlichkeit des Patienten berücksichtigt werden. Der Arzt ist zwar der Experte, der Betroffene bringt aber das nicht minder wichtige individuelle Erfahrungswissen ein.
Spricht man von Psychopharmaka, sollte man generell zwischen zwei Gruppen differenzieren, die unterschiedlich zu bewerten sind: Die erste Gruppe umfasst jene Medikamente, die von PatientInnen nur vorübergehend eingenommen werden sollen, da sie ein Abhängigkeitspotenzial aufweisen und Langzeitschäden zu befürchten sind. Hierzu zählt man vorwiegend die Tranquilizer (v. a. Benzodiazepine). Zur zweiten Gruppe zählt man jene Medikamente, bei denen keine Suchtgefahr besteht und die wegen guter Verträglichkeit langfristig zur psychischen Stabilisierung verabreicht werden können. Dies sind vor allem Antidepressiva und Phasenprophylaktika, aber auch Antipsychotika und Antidementativa.
Als Antidepressiva werden nicht suchterzeugende und gut verträgliche Medikamente bezeichnet, die vorwiegend zur Behandlung von Depressionen entwickelt wurden und sich durch eine stimmungsaufhellende und antriebsnormalisierende Wirkung (manchmal auch psychomotorisch dämpfend) auszeichnen. Antidepressiva werden zunehmend auch bei anderen Symptomen wie Ängsten, Zwängen oder Schmerzen eingesetzt und gelten als eine der am häufigsten verordneten Medikamente überhaupt.
Die meisten Antidepressiva verstärken die Wirkung der beiden Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin, indem sie ihre Wiederaufnahme im synaptischen Spalt hemmen. Dadurch werden die Transmitter häufiger an den Rezeptoren angebunden und bewirken eine verstärkte Weiterleitung eintreffender Reize. Manche Antidepressiva wirken mehr auf den Neurotransmitter Serotonin (z. B. die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI), andere wiederum ausschließlich auf Noradrenalin (Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, NARI). Von dualer Wirkung spricht man, wenn beide Systeme beeinflusst werden, wie bei den trizyklischen Antidepressiva oder den selektiven Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI). Anders wirkende Medikamente blockieren den chemischen Abbau der Neurotransmitter, indem sie die Wirkung von Abbauenzymen (Monoaminooxidase) hemmen (MAO-Hemmer).
1.2.2Klinische Anwendung und Indikationen
Bei Antidepressiva besteht kein Abhängigkeitspotenzial, sie sind in der Regel gut verträglich, führen zu keiner Organschädigung und bewirken auch keine Persönlichkeitsveränderung. Der Begriff „Antidepressivum“ ist irreführend, da mittlerweile neben depressiven Störungen eine Reihe weiterer psychischer Störungen mit dieser Substanzgruppe behandelt wird. Die Wirkungen umfassen neben Stimmungsaufhellung und Antriebsnormalisierung auch Angstlösung („Anxiolyse“), Beruhigung, Sedierung und Schmerzdistanzierung. Wegen der häufig zu Beginn auftretenden Nebenwirkungen ist eine niedrige Dosis bei erstmaliger Einnahme hilfreich. Der Wirkeintritt erfolgt meist erst nach ein bis drei Wochen, was dazu führt, dass beispielsweise eine Stimmungsaufhellung nicht immer der Wirkung des Antidepressivums zugeordnet werden kann. Die Therapie ist nur dann sinnvoll, wenn sie über einen längeren Zeitraum erfolgt. Beispielsweise ist bei rezidivierenden depressiven Störungen eine oft jahrelange prophylaktische Einstellung notwendig. Indikationen für eine Pharmakotherapie mit Antidepressiva sind u. a. depressive Syndrome (depressive Störungen, Belastungsreaktionen), Angsterkrankungen (Panikstörung, Agoraphobie), Zwangsstörungen, Schlafstörungen, Somatisierungsstörungen und Essstörungen.
1.2.3Substanzgruppen und Nebenwirkungen
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