Diesem Verfahren liegt die chronobiologische Theorie zugrunde, dass eine Depression auch einer Störung des circadianen Rhythmus entspricht. Der Schlafentzug ist ein Eingriff in den Schlaf-Wach-Zyklus, der in vielen Fällen eine Abnahme der depressiven Symptomatik wie Antriebslosigkeit, psychomotorische Hemmung, Niedergeschlagenheit und schlechte Befindlichkeit bewirkt. Dem Verfahren gingen Beobachtungen voraus, die aufzeigten, dass sich depressive PatientInnen nach einer zufällig durchwachten Nacht am nächsten Tag besser fühlten. Praktisch lässt sich diese Methode als totaler bzw. partieller Schlafentzug durchführen. Beim totalen Schlafentzug ist der Patient aufgefordert, die ganze Nacht über wach zu bleiben („Wachtherapie“), der partielle Schlafentzug findet hingegen nur in der zweiten Nachthälfte, beispielsweise ab 1 Uhr morgens statt. Obwohl Schlaflosigkeit oder gestörtes Schlafverhalten ein Kardinalsymptom der Depression ist, soll der Schlafentzug Linderung der Beschwerden bewirken. Die Therapie kann selbstständig zu Hause oder in der Klinik unter Aufsicht stattfinden. Behandlungen in zwei- bis dreitägigem Abstand sind notwendig. Der Patient muss allerdings hoch motiviert sein und sedierende Medikamente am Vortag absetzen. Die Therapie mit antidepressiv wirkenden Medikamenten sollte aber weitergeführt werden. Die Wirksamkeit dieses nebenwirkungsfreien Verfahrens ist gut belegt, eine nachhaltige Wirkung ist jedoch nicht zu erwarten. Deswegen hat der Schlafentzug in der Depressionsbehandlung zurzeit nur mehr eine geringe Bedeutung (siehe Kapitel VII, 1.5.1.2).
Der Einfluss von Licht auf die Stimmungslage basiert gleichfalls auf chronobiologischen Faktoren. Beobachtungen haben gezeigt, dass manche Personen besonders in den Herbst- und Wintermonaten anfällig für die Entwicklung von Depressionen sind, was mit der Abnahme des Tageslichts zusammenhängen dürfte. Die Lichttherapie macht sich dieses Faktum bei den saisonal abhängigen Depressionen („SAD“) zunutze (siehe Kapitel VII, 1.3.4). Der Patient soll in der dunklen Jahreszeit aus therapeutischen Gründen etwa eine Stunde täglich vor einer Lichtquelle mit fluoreszierendem, tageslichtähnlichem Licht, deren Intensität zwischen 2.500 und 10.000 Lux beträgt, verbringen. Währenddessen kann er beispielsweise lesen oder telefonieren, er sollte jedoch immer wieder kurz in die Lichtquelle blicken. Der Wirkmechanismus ist im Einzelnen nicht geklärt, der antidepressive Effekt wird aber über das Auge vermittelt. Nebenwirkungen treten praktisch keine auf. Die Behandlungsform soll nicht die Behandlung mit Antidepressiva oder einer Psychotherapie ersetzen, sondern stellt eine Ergänzung bei Vorliegen der speziellen Depressionsform („SAD“) dar.
3Psychotherapie in der Psychiatrie
Die Psychotherapie ist in der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen neben der Pharmakotherapie und Soziotherapie eine wesentliche Therapiesäule, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Obwohl viele Kulturen psychotherapeutische Elemente wie religiöse Riten, Seelsorge, hypnotische Beeinflussung oder Schamanismus entwickelten und auch bei psychisch kranken Menschen anwandten, hat sich die Psychotherapie erst seit Sigmund Freud zu einem systematisierten und wissenschaftlichen Verfahren entwickelt. Aus diesem sind inzwischen über hundert verschiedene Schulen für Psychotherapie hervorgegangen.
Das Verhältnis zwischen Psychotherapie und Psychiatrie ist von besonderem wissenschaftlichem Interesse. Es scheint, dass die biologische Psychiatrie die Psychotherapie zurzeit an den Rand der Bedeutung gedrängt hat. Die Psychotherapie bleibt jedoch eine Basiswissenschaft und wird in allen klinischen Bereichen angewandt. Sie muss eigentlich als biologische Behandlung angesehen werden, die – durch psychische Stabilisierung – Veränderungen der Gehirnstruktur zur Folge hat und daher gleichfalls wichtig ist, wie die Therapie mit Psychopharmaka. Schließlich entspricht jede psychische Funktion auch biologischen Prozessen des Gehirns, beispielsweise die Weiterleitung elektrischer Impulse durch Neurotransmitter. Für alle psychischen Regungen gibt es zwei Betrachtungsebenen: eine psychische, etwa Trauer, Depression, Erinnerungen, und eine biologische, wie die biochemische Aktivität in bestimmten Hirnregionen. Die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie stellt daher unter Beachtung der beiden Ebenen einen erfolgversprechenden Weg in der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen dar. Zusätzliche Forschungsarbeit zur Klärung, bei welchen psychischen Störungen Psychotherapie – entweder allein oder in Kombination mit Medikamenten – wirksam ist, wird in Zukunft notwendig sein. Je mehr Wissen über die Funktionsweise des Gehirns vorliegt, umso eher können zielgerichtete psychotherapeutische Interventionen und Verfahren entwickelt werden (siehe auch Kapitel IV).
Unter Psychotherapie versteht man einen bewussten und geplanten interaktiven Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen (nach Hans Strotzka 1975). Die Behandlung erfolgt mit psychologischen Mitteln und Formen der Kommunikation, mit der Zielsetzung der Symptombeseitigung und der Veränderung der Persönlichkeitsstruktur. Die persönliche Entwicklung und Gesundheit des Behandelten sollen gefördert werden. Der Prozess findet zwischen zwei (oder mehr) Personen statt, wobei der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin aufgrund seiner/ihrer Ausbildung spezielle Interventionen (verbale und/oder averbale Techniken) systematisch und auf Basis einer Theorie des Verhaltens oder der Genese von psychischen Störungen anwendet. Diese Art der Interaktion bedarf einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung und sollte sich grundsätzlich von einer alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnung unterscheiden.
Die Ausübung der Psychotherapie ist an gesetzliche Grundlagen der einzelnen Staaten der Europäischen Union gebunden. Während beispielsweise in Deutschland hauptsächlich nur MedizinerInnen und PsychologInnen die Berufsberechtigung zuerkannt wird, ist in Österreich seit 1990 der Zugang zur Psychotherapieausbildung auch anderen Berufsgruppen möglich. Berufsvoraussetzungen besitzen Personen mit psychosozialen Quellenberufen, wie KrankenpflegerInnen, SozialarbeiterInnen, Sonder- und HeilpädagogInnen, LehrerInnen etc. Das Psychotherapiegesetz regelt die Art der Ausübung, die Ausbildung und die Berufspflichten und -rechte. Die Ausbildung findet in zwei Teilen statt: Das Propädeutikum beinhaltet u. a. die Fächer Psychiatrie, Psychosomatik sowie psychotherapeutisches Grundlagenwissen, während erst im nachfolgenden Fachspezifikum die Selbsterfahrung („Lehrtherapie“), die Vermittlung von Theorie und die Supervision von staatlich anerkannten Psychotherapieschulen angeboten werden. Die jahrelange Ausbildung führt zur Berufsbezeichnung „Psychotherapeut“ oder „Psychotherapeutin“ mit Eintragung in die PsychotherapeutInnenliste des Gesundheitsministeriums. ÄrztInnen ist zwar durch das Ärztegesetz die Ausübung der Psychotherapie erlaubt, der Titel „Psychotherapeut“ setzt jedoch eine Ausbildung voraus. Für PsychiaterInnen ist das Erlernen der Psychotherapie mittlerweile fixer Bestandteil der Ausbildung (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Psychotherapeutische Medizin). Seit einigen Jahren besteht auch die Möglichkeit eines universitären Studiums der Psychotherapiewissenschaften, das eine gleichwertige Ausbildung bietet und einen akademischen Grad verleiht.
3.2Wirkungsweise, Rahmenbedingungen, Indikationen der Psychotherapie
Die Frage, welche Faktoren einer wirksamen Psychotherapie zugrunde liegen, ist Gegenstand der Psychotherapieforschung. Die meisten psychotherapeutischen Schulen versuchen den Leidenszustand, die Beschwerden, Probleme oder Symptome zu erklären und durch Stärkung von Einsicht, Selbstreflexivität, Förderung der Kommunikationsfähigkeit, Veränderung des Verhaltens, Wahrnehmens und Verbalisierung von Gefühlen sowie durch Erkennen von Konflikten zu beeinflussen. Ein wesentlicher Aspekt ist sicherlich die therapeutische Beziehung, die sowohl als unspezifischer als auch spezifischer Wirkfaktor aufgefasst werden kann. Sie inkludiert neben einem vertrauensvollen und von Wertschätzung geprägten Arbeitsbündnis auch eine spezifische Beziehung, die Sigmund Freud „Übertragungsbeziehung“ nannte. Die Analyse der Übertragung und Gegenübertragung (Gefühle des Therapeuten) ist Bestandteil psychodynamischer Therapieformen. Die Klärung und Deutung von Übertragung und Gegenübertragung stellen einen wesentlichen Wirkfaktor dar. Nach Grawe (1994) finden sich fünf allgemeine Wirkfaktoren jeder Psychotherapie, nämlich Klärung, Bewältigung, Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung und die therapeutische Beziehung.
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