Christoph Leo Gehring |
Koblenz, im Juni 2021 |
1Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten
Mitarbeiter in Krankenhäusern, psychiatrischen Einrichtungen und Einrichtungen der Senioren- und Teilhabehilfe stehen nahezu täglich der Frage gegenüber, wann welche Zwangsmaßnahmen medizinisch indiziert und rechtlich zulässig sind. Sie möchten einerseits den ihnen anvertrauten Menschen kein Unrecht tun und sich andererseits nicht strafbar machen. Deshalb ist immer wieder der Ruf nach rechtssicheren Handlungsanleitungen und tatsächlich im Alltag anwendbaren Mustern, welche die rechtlichen Vorgaben im täglichen Workflow umsetzen, zu vernehmen.
Die vorliegende Darstellung soll das Spannungsfeld zwischen Fürsorgepflicht der Einrichtung einerseits und der Autonomie des Patienten andererseits aufzeigen und einen Überblick über die geltende Rechtslage geben. Sie versteht sich als Handreichung für die Praxis, für interessierte Mitarbeiter in den oben erwähnten Einrichtungen, die in ihrer täglichen Arbeit mit der Frage, was rechtlich zulässig ist – und was nicht – konfrontiert sind. Eine Fülle von Fallbeispielen aus der Rechtsprechung und Praxis zeigen Problemstellungen anschaulich auf.
Die Darstellung berücksichtigt am Rande die rechtlichen Besonderheiten von Zwangsmaßnahmen in bestimmten Einrichtungen. Hierzu gehört das Akutkrankenhaus, die Einrichtung für Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung (SGB IX) sowie Einrichtungen für psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter (StGB).
Die Fallbeispiele aus der Rechtsprechung sollen die juristische Theorie für den Anwender erlebbar und nachvollziehbar machen. Ferner enthält die Darstellung eine Fülle von Musterformularen. Es ist zu beachten, dass es sich hierbei um beispielhafte Musterformulare handelt; eine rechtliche Prüfung des konkreten Anwendungsbereichs ist dadurch nicht entbehrlich. Es bleibt stets im Einzelfall zu prüfen, ob das Musterformular der jeweiligen landesrechtlichen Regelung entspricht und in wieweit es tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort aufgreift, umsetzt und rechtswirksam regelt. Die den Formularen zugrundeliegenden Workflows müssen auf die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Wie sich später noch zeigen wird, ist dies nicht nur notwendig, um die Passgenauigkeit sicherzustellen, sondern auch um die Akzeptanz des eingeführten Prozesses sicherzustellen.
Sofern in diesem Buch die männliche Form verwendet wird, geschieht dies ausschließlich aus Vereinfachungsgründen. Erfasst sind damit alle Geschlechter.
2 Arten von Zwangsmaßnahmen
Jede Zwangsmaßnahme richtet sich gegen den Willen der betroffenen Person. Sie ist deshalb zunächst grundsätzlich ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlich geschützten Rechte auf Selbstbestimmung, Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Deshalb bedarf es einer Rechtfertigung, um in diese Rechte einzugreifen.
Der Begriff der Zwangsmaßnahme ist sehr weit. Es lassen sich drei Gruppen bilden:
1. die Unterbringung,
2. die freiheitsentziehenden Maßnahmen, worunter beispielsweise die Fixierung fällt und die
3. die Behandlung wider Willen – die ärztliche Zwangsmaßnahme.
Die Art der Maßnahme ist grundsätzlich unabhängig vom Ort der Maßnahme. Das heißt, dass Fixierungen beispielsweise sowohl im Krankenhaus, als auch in der stationären Pflegeeinrichtung denkbar sind. Dabei gibt es zwei Besonderheiten.
Eine Besonderheit gilt für Zwangsmaßnahmen bei Untergebrachten. Diese befinden sich mit der Unterbringung bereits in einer Zwangsmaßnahme. Das hat zur Folge, dass die Untergebrachten sich gegen die neue Zwangsmaßnahme nur bedingt wehren können. Deshalb gelten für Zwangsmaßnahmen bei Untergebrachten (z. B. Fixierung oder Zwangsbehandlung) abweichende und sehr strenge Genehmigungsvoraussetzungen.
Die zweite Besonderheit sind bestimmte Einrichtungen für gewisse Zwangsmaßnahmen. So findet eine Unterbringung regelmäßig in dafür vorgesehenen psychiatrischen Einrichtungen statt. Andere (unterbringungsähnliche) freiheitsentziehende Maßnahmen, wie beispielsweise die Eingrenzung des Bewegungsradius von Personen mit Demenz, sind keine Unterbringung, sondern eine sonstige freiheitsentziehende Maßnahme. Der Gesetzgeber hat sich für einen »engen« Unterbringungsbegriff entschieden (Müller-Engels 2020 BGB § 1906 Rn. 24).
Auf die einzelnen Besonderheiten der unterschiedlichen Zwangsmaßnahmen einerseits sowie auf die Besonderheiten der einzelnen Einrichtungen andererseits wird in den entsprechenden Kapiteln eingegangen.
Mit der Reform im Jahr 2023 wird sich der Katalog der zivilrechtlichen Zwangsmaßnahmen nicht ändern. Der Wortlaut der Regelungen für Zwangsmaßnahmen ändert sich nur an wenigen Stellen. Allerdings ändert sich das Betreuungsrecht. Dies wird dann zum Teil Auswirkungen in der Praxis haben. Auf die Neuerungen wird im weiteren Verlauf des Buches an den konkreten Stellen eingegangen. Diese Stellen sind wie diese Textstelle hervorgehoben. Dies ermöglicht dem Leser die Gesetzeslage vor und nach 2023 zu vergleichen.
Zahlreiche Änderungen des Gesetzeswortlauts sind einer neuen Sichtweise auf das Vormundschafts- und Betreuungsrecht geschuldet. Wobei das Vormundschaftsrecht im Folgenden ausgeblendet wird, um thematisch nicht abzuschweifen. Das bisherige Recht versuchte die rechtliche Stellung des Betroffenen abzubilden und dabei zu kompensieren, dass dieser selbst keine Entscheidungen treffen konnte. Der Betroffene war derjenige, über den Entschieden wurde, nicht derjenige, der mitentscheiden konnte. Der neue Wortlaut soll die Selbstbestimmtheit des Betroffenen in den Mittelpunkt stellen. Damit versucht das Gesetz die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 12 UN-BRK) umzusetzen (Grziwotz ZRP 2020, 248). Damit verändert sich die »Stoßrichtung« und damit der Wortlaut der gesetzlichen Regelungen (BT Drs. 19/27287 S. 3, 125). Ob in der Sache damit viel gewonnen ist, ist freilich eine andere Frage. Dies soll an einem Beispiel deutlich gemacht werden. Bisher berieten der Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigte mit dem Arzt, was dem Patienten hilft und was in dessen Interesse und was dessen mutmaßlicher Wille sei. Im Zentrum steht folglich die Entscheidung, die für den Betroffenen vorgenommen wird. Bei der Entscheidung ist der Wille des Betroffenen zu berücksichtigen. Im neuen Wortlaut steht das Interesse des Betreuten im Mittelpunkt und der Betreuer soll diesen beim Finden seiner Entscheidung unterstützten. Nur wenn der Betreute keine Entscheidung treffen kann, soll diese Entscheidung ersetzt werden. Wenn diese Entscheidung dann ersetzt werden muss, gilt wieder der mutmaßliche Wille des Betroffenen. Folglich überlegen wieder Betreuer und Arzt, worin der mutmaßliche Wille des Betreuten besteht. Somit führen sowohl der alte, als auch der neue Wortlaut zum selben Ergebnis. Lediglich der Fokus auf dem Weg ändert sich (ebenso Grziwotz ZRP 2020, 248, 251).
Zudem wurde der Gesetzestext neu strukturiert. Folglich haben die Paragraphen auch neue Ziffern erhalten. Die im Zusammenhang mit den in diesem Buch wichtigsten neuen Normen sind in der Anlage dieses Buches abgedruckt.
Eine freiheitsentziehende Unterbringung ist gegeben, wenn der Betroffene ohne oder gegen seinen Willen in einem räumlich begrenzten Bereich (insbesondere in einem geschlossenen Krankenhaus, einer anderen geschlossenen Einrichtung oder dem abgeschlossenen Teil einer solchen Einrichtung) festgehalten, sein Aufenthalt ständig überwacht und die Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb des Bereichs eingeschränkt wird (BGH, Beschl. v. 11.10. 2000 – XII ZB 69/00; NJW 2001, 888, OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.11.1962 – 3 W 362, 383/62, NJW 1963, 397).
Читать дальше