Der Schock traf nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die staatlichen Akteure. Plötzlich war alles anders und es galt, schnell Entscheidungen zu treffen. Das Wort von der „Stunde der Exekutive“ verbreitete sich. In Krisenzeiten, so die Theorie, müsse die Exekutive das Heft des Handelns übernehmen, um die notwendigen Entscheidungen möglichst schnell herbeizuführen. Das ist im Prinzip nicht verkehrt und auch die Rechtsprechung hat dies in den ersten Corona-Entscheidungen durchaus anerkannt, wenn Bürger rügten, dass per Verordnung erlassene Maßnahmen mit historischen Grundrechtseingriffen wohl kaum mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie in Einklang zu bringen sind, wonach wesentliche grundrechtssensible Fragen dem Parlament vorbehalten sind – und eben nicht der Exekutive.
Um die einzelnen Maßnahmen der 16 Länder, deren Landesregierungen im Infektionsschutzgesetz zur Corona-Bekämpfung per Verordnung ermächtigt werden, aufeinander abzustimmen, wurden die Konferenzen auf Einladung der Bundeskanzlerin ins Leben gerufen. Die Aufgabenbeschreibung und die Selbstwahrnehmung dieses Gremiums entwickelte sich sehr schnell von der Koordinierungsfunktion zum Ort, an dem die Maßnahmen selbst entwickelt, beraten und beschlossen werden. Den Ton gibt dabei das Kanzleramt vor, das regelmäßig die Beschlüsse entwirft und oft erst Stunden vor den Sitzungen an die eigentlich zuständigen Länder übermittelt. Der Deutsche Bundestag geriet so in diesen Fragen der Grundrechtseingriffe in eine Beobachterrolle, ohne dass er dies angestrebt oder gar beschlossen hätte. Es ist einfach passiert.
Die Stunde der Exekutive hat ihre Zeit längst überschritten. Und auch wenn inzwischen nach erheblichem Druck eine Konkretisierung der Ermächtigungsgrundlage durch Einfügung des § 28a im Infektionsschutzgesetz erfolgt ist, wird das Wie und Ob der bundesweiten Corona-Bekämpfung weiter im Gremium aus Kanzlerin und Länderchefs entschieden. Dabei gerät fast schon aus dem Blick, dass auch die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten nicht zu den Corona-Bekämpfungsmaßnahmen ermächtigt werden, sondern die Landesregierungen. Diese sind Kollegialorgane und die Ministerpräsidenten ein Teil davon, aber keineswegs identisch. Die Kabinette in den Bundesländern müssen die Maßnahmen also im Nachgang noch bestätigen, ohne an der Entscheidungsfindung in direkter Weise beteiligt gewesen zu sein. Auch hier gerät das Verständnis unserer Staatsorganisation an Grenzen. Die Landesregierungen sind schließlich als Verfassungsorgane ihrer jeweiligen Länder die Exekutive teilsouveräner Gliedstaaten der Bundesrepublik und als solche jeweils ihren Parlamenten verantwortlich und nicht dem Kanzleramt.
Das Selbstverständnis des Parlaments lebt vom Selbstverständnis seiner Parlamentarier
Der beschriebene Zustand kann keinen Verfassungsfreund zufrieden machen. Der auch nach über einem Jahr der Pandemie beschrittene Weg der Entscheidungsfindung ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Da ist es allenfalls ein schwacher Trost, dass formal die Landesregierungen die jeweiligen Beschlüsse bestätigen und immer mehr Landesparlamente wenigstens im Nachgang diese Beschlüsse debattieren. Denn faktisch hat sich ein Gremium zur Entscheidungsfindung institutionalisiert, das diese Kompetenz nicht besitzt. Und alles, was im Nachgang passiert, geschieht mal mehr, mal weniger pro forma. Das merken auch die Bürgerinnen und Bürger und so wird letztlich auch das Vertrauen in unser Staatswesen geschwächt. Denn es entsteht der Eindruck, dass die Regierungen die Legitimation ihres Handelns nicht mehr von den Parlamenten ableiten, sondern von den Beschlüssen, die im Kanzleramt vorbereitet, beraten und beschlossen werden.
Es ist einigermaßen erstaunlich, wie sehr sich dieses Verfahren etablieren konnte. Denn die Bund-Länder-Gipfel füllen keineswegs eine verfassungsrechtliche Regelungslücke, die einen Grund für die bemerkenswerte Praxis liefern könnte. Wenn das Kanzleramt will, dass bundesweit einheitliche Beschlüsse getroffen werden, so sieht die Verfassung hierzu Wege vor. Der Infektionsschutz ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung. Strebt der Bund also bundesweit einheitliche Regelungen an, hat er die Möglichkeit dies zu tun. Er muss von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch machen und kann die Rahmenbedingungen schaffen, die er für notwendig hält und in denen die Länder dann das Infektionsschutzgesetz anwenden. Dieser Weg geht aber ausschließlich über den Gesetzgeber, also den Bundestag unter Beteiligung des Bundesrates. Die Einfügung des § 28a im Infektionsschutzgesetz war hierzu kein ernst zu nehmender Versuch, denn er ist voll von unbestimmten Rechtsbegriffen und weichen Kriterien. Die konkretisierende Wirkung im Vergleich zur Generalklausel des § 28 ist also nur unwesentlich. Und selbst die inzwischen im Gesetz genannten Kriterien der Inzidenzwerte von 35 bzw. 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, an denen die Maßnahmen auszurichten sind, haben das Kanzleramt nicht davon abgehalten, im Februar 2021 einen Beschluss zu erwirken, der öffentlich wie folgt zusammengefasst wurde: 35 ist die neue 50. Es hat also eine Verschiebung des Bewertungsmaßstabes stattgefunden, ohne dass dies im Gesetz zuvor geregelt worden wäre.
Aus dem Bundestag regt sich auch nach einem Jahr der Pandemie erstaunlich wenig Widerstand gegen das Zurückdrängen in die Beobachterrolle. Es ist, als glaubten die Vertreter der Regierungskoalition und großer Teile der Grünen, dass die Stunde der Exekutive fortzudauern habe, bis das Virus vollständig verschwunden ist. Diese Fehleinschätzung gründet teilweise in der oben beschriebenen Schockerfahrung. Dass sie so lange fortdauern kann, hängt aber auch am Missverständnis der unterschiedlichen Rollenverteilung von Parlament und Regierung, das sich in Teilen verbreitet hat.
Als Anfang Februar 2021 berichtet wurde, dass im Landkreis Stendal der Landrat und sein Stellvertreter schon vor Beginn der Impfkampagne geimpft wurden und auch 320 Polizisten entgegen der vorgesehenen Reihenfolge die Impfung schon erhalten hatten, verlangte der CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge auf Twitter Aufklärung und erklärte zusätzlich: „Wir haben im Bundestag bei Priorisierung der Impfungen bewusst Hochbetagte und Risikogruppen bevorzugt.“
Ein erstaunliches Statement, wenn man bedenkt, dass die Frage der Impfpriorisierung nicht im Deutschen Bundestag beschlossen wurde, sondern ebenfalls im Verordnungswege. Es gab zwar einen Entwurf im Bundestag, der sich mit der Frage der Impfreihenfolge beschäftigte, dieser stammte allerdings von der FDP und wurde „bewusst“ abgelehnt. „Wir im Bundestag“, wie es der Abgeordnete formulierte, war wohl gleichzusetzen mit „wir in der Regierung“, obwohl ein Bundestagsabgeordneter auch dann nicht automatisch Teil der Bundesregierung wird, wenn seine Fraktion die Regierung stützt. Wenn die Grenzen in der Selbstwahrnehmung schon so verschwimmen, besteht kein Anlass mehr, das Recht gegenüber der Exekutive einzufordern, weil es schlicht kein Problembewusstsein gibt.
Auch Peter Altmaier, selbst Bundestagsabgeordneter und gleichzeitig einer der wichtigsten Minister der Bundesregierung, gab Einblick in sein Rollenverständnis. Ausgerechnet am Vorabend des 150. Jahrestages der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles gab der Bundeswirtschaftsminister als Entgegnung auf die zuvor von Christian Lindner in der Sendung von Anne Will geforderte Beteiligung des Bundestages auf Twitter zu Protokoll: „Die MPK mit Bundeskanzlerin & Bundesministern ist Erbstück aus der Bismarck-Zeit. Es ermöglicht ‚unity in diversity‘. Wir brauchen es, wenn die Zeiten schwer sind, nicht, wenn sie gut sind. Aber natürlich kann der Bundestag jederzeit das Bundesinteresse formulieren.“
Er übersah dabei freilich, dass auch eine Reminiszenz an Bismarck verfassungsrechtliche und gesetzliche Notwendigkeiten der Bundesrepublik nicht außer Kraft setzen kann. Zudem war der Bundesrat des Kaiserreichs, auf den der Minister anspielte, immerhin ein Verfassungsorgan und die Ministerpräsidentenkonferenz ist es nicht. Die Leichtfertigkeit, mit der das Argument der Krisenzeit als Rechtfertigung für ein Abweichen von lang eingeübter und in der Verfassung niedergelegter Staatspraxis verwendet wird, stimmt bedenklich. Wir sollten uns nicht weiter daran gewöhnen.
Читать дальше