1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 2. Krisensequenzen
Zu Beginn der Pandemie schien sie den Kontinent aufs Neue nach einem bekannten Muster geografisch zu spalten: Während Länder, die immer noch mit den besonderen Altlasten der Eurokrise zu kämpfen hatten, wie Italien und Spanien, besonders früh und besonders schwer von Covid-19 betroffen waren, kamen die nord-, aber auch die ostmitteleuropäischen Länder zunächst offensichtlich besser durch die Pandemie – oder wurden von vornherein weniger von ihr in Mitleidenschaft gezogen. Das ließ befürchten, dass damit die sich ohnehin auseinanderbewegende Entwicklung im europäischen Wirtschaftsraum, vor allem in der Eurozone, durch den Corona-Ausbruch verstärkt würde – mit den sich daraus ergebenden politischen Desintegrationstendenzen. In der sogenannten zweiten Welle hat sich dieses Bild jedoch nachhaltig relativiert, der Schock wurde „symmetrischer“, denn nun sind Länder besonders betroffen – beispielsweise Portugal, aber auch osteuropäische Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien –, die noch im Frühjahr und Frühsommer 2020 deutlich weniger unter der Pandemie gelitten hatten. Auf der anderen Seite kann ein Land wie Großbritannien, das neben den USA oder Brasilien für einige zunächst als Beleg der These von der Unvereinbarkeit populistischer Politik mit verantwortlichem Krisenmanagement diente, auf eine extrem erfolgreiche Impfkampagne und deutlich sinkende Infektionszahlen verweisen. Und von Anfang an entsprach auch das höchst erfolgreiche Krisenmanagement der griechischen Regierung nicht dem Muster einer erneuten europäischen Nord-Süd-Spaltung in der Corona-Krise (so, wie auch das Handeln der schwedischen Regierung zunächst sehr kritisch gesehen wurde).
Das Muster einer zeitlichen Überlagerung der Krisen war aber sichtbar daran, dass politische Akteure, die ihren Aufstieg der einen Krise verdankten, dann für die Bewältigung der nächsten (oder übernächsten) verantwortlich wurden. Griechenland, sozusagen als erstes Krisenland, erlebte im Januar 2015 die Wahl einer radikalen Herausfordererpartei, Syriza, weil viele Wähler der langjährigen „geschlossenen“ Machtalternanz von Nea Dimokratia und PASOK die Hauptverantwortung für die Malaise des Landes zuschrieben. Diese linkspopulistische Partei war es dann, die den Konflikt mit der Eurogruppe im Frühjahr/Sommer des Jahres eskalieren ließ, mit oχi-Referendum und Grexit-Drohung, zu einem Zeitpunkt, als Europas zweite Krise der jüngsten Vergangenheit, die Flüchtlingskrise, bereits anrollte. 2019 sah sich Syriza dann schon wieder aus dem Amt gewählt. Das Krisenmanagement dieser neuen Formation schienen die griechischen Wähler also auch nicht als so viel besser als das der Altparteien zu beurteilen: die „Veralltäglichung des populistischen Charismas“ durch Regierungsverantwortung. In Italien und Spanien waren hingegen zu Beginn der Pandemie unter anderem jene populistischen Protestparteien an der Macht, deren Aufstieg insbesondere mit den ökonomischen Verwerfungen in Verbindung steht, die die Eurokrise mit sich gebracht hatte: Movimento Cinque Stelle und Podemos, jeweils in Koalitionen mit den italienischen bzw. spanischen Sozialdemokraten. Diese Koalition ist in Italien seit Februar 2021 einer überparteilichen Regierung im Namen der „nationalen Einheit“ unter dem ehemaligen EZB-Direktor Mario Draghi gewichen. Die Conte-Regierung hatte sich bezeichnenderweise über die Verteilung der großzügigen Wiederaufbaufondsgelder zerstritten (zur Verteilung des „EU Recovery Fund“ vgl. Darvas 2020a; 2020b) – der am 21. Juli 2020 auf einem EU-Gipfel beschlossene außerordentliche „Wiederaufbaufonds“ im Umfang von 750 Milliarden Euro (unter dem Namen „Next Generation EU“, NGEU, mit der „Recovery and Resilience Facility“, RRF) zielte genau auf die erneut drohende Nord-Süd-Spaltung Europas. In Osteuropa hingegen tragen vor allem in Ungarn und Polen rechtspopulistische Parteien Regierungsverantwortung, die in den Wahlen der Jahre 2015, 2018 und 2019 von ihrer unversöhnlichen Haltung in der europäischen Flüchtlingspolitik und der klaren Abgrenzung zur Merkel-Regierung profitieren konnten: PiS und Fidesz. Die deutliche Niederlage der pro-europäischen, liberalen Bürgerplattform in den polnischen Parlamentswahlen vom Oktober 2015, zur Hoch-Zeit der Migrationskrise, ist in diesem Kontext zu sehen. Konnten PiS und Fidesz in der ersten Welle noch von ihrem als besonders erfolgreich erscheinenden Krisenmanagement politisch profitieren – die polnische PiS etwa in den Präsidentschaftswahlen vom Juni/Juli 2020 –, so sind doch aktuell im Kontext steil steigender Infektions- und Mortalitätszahlen die Zustimmungswerte deutlich rückläufig.
In der Zwischenzeit hatte sich, als gravierender Einschnitt in der Geschichte der europäischen Integration, mit dem Brexit auch erstmals der Austritt eines Mitgliedslandes aus der EU vollzogen. Ukip oder die Nachfolgepartei, die Brexit-Party, die diesen Austritt wesentlich vorangetrieben hatten, sind mittlerweile zwar völlig marginalisiert, teils weil sie ihre Mission als erfüllt ansehen können, teils weil das britische Mehrheitswahlrecht kleine Parteien besonders benachteiligt, aber mit Boris Johnson ist ein – von vielen als populistisch charakterisierter – Brexiteer an der Regierung, und auch der Brexit selbst ist ohne die beiden Vorgängerkrisen, „the Great Recession“ einerseits und die Migrationskrise andererseits, nicht zu verstehen (Clarke et al. 2017; Dennison/Geddes 2018). 2
Allein diese hier nur grob skizzierten, von Land zu Land recht unterschiedlichen Konstellationen mit Links- oder Rechtspopulisten, in der Regierung oder der Opposition, in Verbindung mit den verschiedenen Maßen der Krisenbetroffenheit in der ersten und zweiten Welle, lassen es als eher unwahrscheinlich erscheinen, dass sich über alle Länder hinweg hinsichtlich der Eingangsfrage nach der neuen Sachlichkeit eine eindeutige und einheitliche Antwort geben lässt. Fragen wir aber zunächst, welche Entwicklungen sich überhaupt empirisch nachzeichnen lassen. Ich skizziere zunächst den deutschen Fall in Bezug auf den Pandemieverlauf und die politischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung – auch im Urteil der Bevölkerung – und erweitere dann die Perspektive auf einen Vergleich ausgewählter europäischer Länder.
3. Die Stunde der Exekutive? Das deutsche Beispiel
Krisen geben dem verantwortlichen Personal die Gelegenheit zum tagtäglichen Ausstellen von Entschlussfreude und Handlungsfähigkeit, bieten maximale Öffentlichkeit, beständiges „airplay“. Die jeweilige Opposition hingegen muss sich in diesen Zeiten der allgemeinen Bedrohung und des nationalen Zusammenstehens zurückhalten, sie dringt mit ihren Themen nicht mehr durch. Sie muss sich zudem vorsehen, in Zeiten existentieller Bedrohung nicht wie der Querulant vom Seitenrand des Geschehens zu erscheinen. Ihr bleibt also nicht viel anderes übrig, als auf grobe Schnitzer des handelnden Personals zu warten. Insofern waren gestiegene Zustimmungswerte für die jeweils amtierende Regierung etwas, das zunächst ganz unabhängig vom einzelnen nationalen Kontext erwartet werden konnte. Selbst in den USA, wo für jeden unbeteiligten Beobachter das Versagen der Trump-Administration im Management der Krise früh offenkundig sein musste, stiegen die Zustimmungswerte des Präsidenten zunächst. Die tägliche Pressekonferenz im Weißen Haus, die Dramatik des nationalen Notstands, die Reflexe des Zusammenstehens in Zeiten der allgemeinen Bedrohung – der „Rally ‘round the flag“-Effekt ist als Phänomen schon öfters beschrieben worden (für die Corona-Krise siehe Blais et al. 2020).
Dass darin auch eine potentiell autoritäre Komponente enthalten ist, ist offenkundig. Die Exekutive kann schnell Gefallen finden an den neuen Verhältnissen: Die spanische Regierung ließ in den virtuellen Pressekonferenzen nur noch vorab ausgewählte Fragen zu und erlaubte kein kritisches Nachhaken der Journalisten, die italienische Regierung richtete unter dem Motto des Kampfes gegen „Fake-News“ einen Stab ein, der die Aufgabe hat, die „richtige“ Darstellung der Krise in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen und die „falsche“ zu bekämpfen. In Frankreich liegt die Corona-Politik in der Zuständigkeit eines „Verteidigungsrats“, zu dessen Protokollen noch nicht einmal Kabinettsmitglieder Zugang haben. Es war auch nicht gerade ein Ausweis eines pluralistisch-liberalen Verständnisses öffentlicher Meinungsvielfalt, als die Bundeskanzlerin meinte, mit ihrem Verdikt „Öffnungsdiskussionsorgien“ eine kritische Debatte der Shutdown-Maßnahmen unterbinden zu müssen. Der verfassungsrechtliche Status von „Ministerpräsidentenkonferenzen“ im Staatsaufbau der Bundesrepublik ist ebenfalls unklar und dass deren Beschlüsse dann regelmäßig im Nachhinein dem Bundestag kundgegeben werden, zeugt von einem eher gering entwickelten Verständnis für die Notwendigkeit einer parlamentarischen Legitimation weitgehender Grundrechtseinschränkungen. Die polnische Regierung wollte die Gunst der Stunde dazu nutzen, die hohe Zustimmung zu ihrer Krisenpolitik und die Mobilisierungsschwierigkeiten der Opposition in Corona-Zeiten geschmeidig in eine zweite Amtszeit von Präsident Andrzej Duda zu übersetzen (was ihr, wenn auch nicht geschmeidig, gelang). Bekanntlich hat die ungarische Notstandsgesetzgebung vom Frühjahr 2020 mit ihrer zeitlich unbeschränkten Ermächtigung der Regierung zur Einschätzung geführt, hier habe sich die erste Corona-Autokratie auf europäischem Boden etabliert (V-Dem Institute 2020). Die entsprechenden Vollmachten wurden allerdings im Mai wieder aufgehoben. Insofern wurde die besorgte Frage, wie die Demokratie durch die Pandemie kommen würde (insbesondere, wenn sie durch populistische Vorerkrankungen geschwächt sei), vielfach gestellt. Bislang zeigt sich allerdings ein hohes Maß an demokratischer Resilienz (Edgell et al. 2020a; 2020b; Lührmann et al. 2020). Zugleich fällt im direkten Regime-Vergleich das Ergebnis recht eindeutig aus: In der Pandemie-Bekämpfung zeigt sich – zumindest, wenn man Mortalitätsraten zugrunde legt – die Überlegenheit autoritärer Maßnahmen gegenüber liberaler Politik.
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