Der Deutsche Bundestag wurde in seiner Anfangszeit von Menschen geprägt, die all dies vor Augen gehabt haben dürften, genauso wie zuvor schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. Der Erfolg der Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat dürfte nicht unwesentlich mit den Erfahrungen dieser Menschen zusammenhängen. Gab es Konflikte um die Rechtsstellung des Parlaments, so blieb der geordnete Gang vor das Bundesverfassungsgericht, um diese Rechte klären zu lassen. Wirkliche existenzielle Fragen stellten sich für den Bundestag in über sieben Jahrzehnten weniger. Trotzdem war er stets das Zentrum der politischen Auseinandersetzung und Schauplatz prägender und nachhallender Debatten. Eine starke Verfassung, geprägt von starken politischen Persönlichkeiten, hatte vorgesorgt und diesem Land die glücklichsten Jahre des Parlamentarismus beschert. Nachdem sich 1990 die Ostdeutschen nach der mutigen und friedlichen Revolution dem Geltungsbereich des Grundgesetzes angeschlossen hatten, war dies auch endlich wieder eine gesamtdeutsche Erfahrung.
Die Gewissheit um die Stabilität unserer Demokratie und das Vertrauen in die Stärke des Grundgesetzes hat unsere Gesellschaft vielleicht auch nachlässig gemacht. Zwischenzeitlich konnte man sogar den Eindruck gewinnen, die Deutschen interessierten sich nicht mehr für ihre Volksvertretung. Der Ärger von Norbert Lammert bei seiner legendären Eröffnungsrede zum 17. Deutschen Bundestag im Jahr 2009 war jedenfalls nachvollziehbar, als er das zeitgleich ausgestrahlte Programm von ARD und ZDF vorlas, die auf Telenovela und TV-Komödie setzten, statt der Übertragung der Konstituierung des Deutschen Bundestages Raum zu verschaffen. Seichte TV-Kost statt hoher Politik. Dabei folgen auch ARD und ZDF leider in Wahrheit nur der Logik von Angebot und Nachfrage. Die Übertragung schien schlicht nicht attraktiv genug, ausreichend Marktanteile zu generieren, und so schob man sie auf den Spartenkanal Phoenix ab. Die Deutschen schienen den TV-Verantwortlichen nicht interessiert genug. Leider keine ganz unrealistische Einschätzung.
Leere Stühle statt offener Debatte
In Zeiten der Corona-Pandemie ist das natürlich anders. Das Interesse der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen ist enorm. Die TV-Sender, sowohl die öffentlich-rechtlichen Anstalten als auch die privaten Sender, füllen ihr Programm mit Sondersendungen, Talk-Formaten und Reportagen rund um das Virus. Das ist mehr als nachvollziehbar. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik schien das Schicksal von so vielen Menschen gleichzeitig in so direkter Abhängigkeit von politischen Entscheidungen. Millionen Menschen fragen sich über Monate hinweg, wie es weitergeht mit ihrem Arbeitsplatz, mit der Schulbildung ihrer Kinder, dem geplanten Besuch von älteren Familienangehörigen im Altenheim, deren Schicksal mit Blick auf die verheerenden Todeszahlen in Alten- und Pflegeheimen viele zu Recht mit größter Sorge und Angst erfüllt. Die Entscheidungen über all diese Fragen werden seit Frühjahr 2020 regelmäßig in einem mehrwöchigen Takt gefällt. Steht ein Tag solcher Entscheidung an, merkt man schon Tage vorher die Anspannung im gesamten Land. Die Sondersendungen werden daher ebenfalls schon Tage vorher programmiert, und die Talk-Shows laden ihre Gäste zur abendlichen Nachlese der Entscheidungen, die so elementare Folgen für Millionen Einzelschicksale haben und die uns auch noch beschäftigen werden, wenn das Virus im Zaum gehalten ist.
Gezeigt wird in den Sondersendungen an diesen Tagen nicht das Plenum des Deutschen Bundestages, denn dieser trifft die oben genannten Entscheidungen nicht. Gezeigt werden zunächst die leeren Stühle, auf denen die Bundeskanzlerin und zwei Ministerpräsidenten erwartet werden, um über die zuvor in geheimer Sitzung beratenen Beschlüsse zu berichten. Die Nachrichtensender übertragen oft über Stunden das Bild des Raums der Pressekonferenz mit den noch leeren Sesseln, versehen mit einer Unterschrift, die in etwa lautet: „Gleich live: Pressekonferenz der Bundeskanzlerin zu den neuen Corona-Beschlüssen“.
Währenddessen schießen die Spekulationen in der Öffentlichkeit ins Kraut. Bleiben Frisöre die nächsten Monate offen? Wann öffnen die Restaurants? Kann ich noch über die Grenze meines Bundeslandes hinaus reisen? Wird es Ausgangssperren geben? All das sind reale Fragestellungen, mit denen wir uns rund um die Bund-Länder-Gipfel von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten seit März 2020 wiederholt beschäftigt haben. Am besten unterrichtet ist meist die Bild, die über ihren Live-Ticker manche Interna zu den Beratungen an das Licht der Öffentlichkeit bringt. Ansonsten bleibt es aber bei dem Bild des leeren Sessels, bis die Kanzlerin vor die Kameras tritt und mitteilt, welche Richtung das öffentliche, wirtschaftliche und soziale Leben in den nächsten Monaten nehmen wird. Dieses Szenario, an das wir uns schon so sehr gewöhnt haben, wäre vor dem Frühjahr 2020 bestenfalls in einer dystopischen Fiktion denkbar gewesen. In der Geschichte der Republik ist es jedenfalls beispiellos. Denn eigentlich müssten die Kameras der Fernsehanstalten an Tagen von Entscheidungen solcher Reichweite nur auf einen Ort gerichtet sein: das Rednerpult des Deutschen Bundestages.
Dass dies nicht der Fall ist, ist keineswegs banal. Es geht nicht nur um rein juristische Erwägungen. Diese sind für sich genommen schon triftig genug, denn diese Erwägungen gründen direkt in unserer Verfassung. Es geht darüber hinaus aber auch um das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, das dauerhaft Schaden zu nehmen droht. Keine der wesentlichen Entscheidungen zu den Bekämpfungsmaßnahmen der Corona-Pandemie wurden von den Verantwortlichen öffentlich debattiert. Sie wurden bestenfalls im Nachgang erklärt und in einigen der Landesparlamente zur Abstimmung gestellt. Und selbst dies musste durch erheblichen öffentlichen Druck erst erkämpft werden. Das ist keinesfalls vertrauensbildend und darum so fatal. Denn das Vertrauen ist das Grundkapital einer erfolgreichen Pandemiebewältigung. Ohne Vertrauen in die Regierung und die maßgeblichen Entscheider droht die gesamte Maßnahmenpolitik zu scheitern. Denn die Maßnahmen sind so tiefgreifend und so umfassend, dass sie in die privatesten Winkel der Leben der Bürger einstrahlen. Das macht sie aber auch gleichzeitig in Teilen unkontrollierbar. Ohne den Willen der Bürger wird es schlichtweg nicht funktionieren. Die Erkenntnis darüber mag ein Grund dafür sein, dass die Kanzlerin, die Interviews eigentlich scheut wie wenige Regierungschefs in westlichen Demokratien, Anfang des Jahres 2021 gleich drei Fernsehinterviews mit unterschiedlichen Sendeanstalten in kürzester Zeit hintereinander führte. Das Ziel war offensichtlich, die zuvor beschlossene Fortdauer des Lockdowns zu erklären. Erklärungen sind grundsätzlich nicht verkehrt, aber sie reichen ob der Dramatik der zuvor getroffenen Entscheidungen nicht aus. Die Argumente für und gegen die jeweilige Maßnahme, die hinter verschlossenen Türen zweifellos ausgetauscht werden, müssen öffentlich ausgetragen werden. Die Expertise, die die Grundlage für bestimmte Entscheidungen ist, muss genauso transparent sein wie der Zweifel, der in einer Demokratie kein Makel, sondern eine Stärke ist. Das bloße Verkünden und Erklären von Maßnahmen zeugt von einer paternalistischen Haltung der Akteure gegenüber den Bürgern, die auf Dauer Missmut und Widerstand geradezu provoziert. Jeder Bürger in einem aufgeklärten Staatswesen kann sich seine Gedanken machen und bestimmte Entscheidungen bewerten. Wenn die Regierung nicht einmal mehr ihren Gedankengang in öffentlicher Debatte verteidigt, führt das automatisch zu einer Entfremdung, die auf Dauer immer gefährlicher wird.
Aus Ohnmacht wird Gewöhnung
Es gibt Gründe, die diese Abkehr von der öffentlichen Debatte begünstigt haben. Einer davon liegt sicherlich in den Erfahrungen des März 2020. Corona traf dieses Land total unvorbereitet. Und damit sind hier nicht organisatorische Fragen gemeint, sondern Deutschland war vor allem auch psychologisch nicht vorbereitet. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Berichte von Viren, die auch unsere Gesellschaft zu bedrohen schienen. Aber die SARS-CoV-Epidemie 2002/2003 zog an Deutschland beinahe vollständig vorbei und die Schweinegrippe-Pandemie verlief vergleichsweise glimpflich. Die noch immer laufende AIDS-Pandemie, von der auch wir seit über 30 Jahren betroffen sind und die rund 30 000 Tote allein in Deutschland gefordert hat, wird von den meisten hierzulande nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Insbesondere, weil es seit vielen Jahren große Therapiefortschritte gibt. Neben der oben beschriebenen Gewöhnung an ein Leben in Freiheit und Demokratie war den meisten Deutschen die Gefahr einer Virus-Pandemie wohl schlicht nicht vor Augen oder wenn, dann nur abstrakt. So löste das Eintreffen des Virus einen gewissen Schock aus. Die Gefahr schien realer und die drohenden Ausmaße konnten in der Tagesschau durch die schrecklichen und verstörenden Bilder aus Italien, wo das Virus zunächst weitaus verheerender wütete und auf ein schlechter aufgestelltes Gesundheitssystem traf, betrachtet werden. Die Auswirkungen dieses Schocks wurden zuerst in den Supermärkten anschaulich, wo sich die Bevölkerung plötzlich mit leeren Regalen konfrontiert sah, weil die Menschen sich auf schlimmste Szenarien vorzubereiten begannen. Dies führte wiederum zu noch größerer Verunsicherung. Es gab eine gewisse gesellschaftliche Ohnmacht, die manche damit zu bekämpfen glaubten, dass sie Toilettenpapier horteten, um ein Rest von Kontrolle über ihr Leben zu behalten.
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