Besonderheiten des inklusiven Unterrichts
Die Befundlage zum adaptiven Unterricht ist insgesamt uneinheitlich. Individualisierung und Differenzierung zeigen geringe Effektstärken, und die Wirksamkeit des Unterrichts ist offenbar stark abhängig von der Lerngruppe (Martschinke, 2015). Für den inklusiven Unterricht konnte die empirische Unterrichtsforschung bisher keine genügend ausdifferenzierte Unterrichtsstrategie für Lernende mit besonderem Förderbedarf identifizieren. Die Orientierung an allgemeinen Merkmalen von gutem Unterricht in Theorie und Forschung spricht gegen eine Unterscheidung von inklusivem und herkömmlichem Unterricht (Decristian & Klieme, 2016, S. 341). Trotzdem wird in der Forschungsliteratur auf Besonderheiten des inklusiven Unterrichts verwiesen (z. B. notwendiges sonderpädagogisches Wissen der Lehrpersonen, spezifische Lernsettings, differenziertes Lernmaterial und spezifische Fördermaßnahmen, individuelle Curricula). Hervorgehoben werden im Hinblick auf Befunde aus der Unterrichtsqualitätsforschung Merkmale, die es im inklusiven Unterricht besonders zu beachten gilt, wie häufige über-/fachliche und individuelle Rückmeldungen, Hinweise auf Lernstrategien, verteiltes Üben und Wiederholen, Elterneinbindung, Förderung der Bildungssprache, Kooperation mit Förderlehrkräften (Werning, 2014). In Anlehnung an den wissenschaftlichen Diskurs (European Agency, 2012; Kullmann et al., 2014, S. 91; Labhart, Pool Maag & Moser Opitz, 2018; Moser Opitz, 2018, S. 226) profiliert sich inklusiver Unterricht entlang von vier Dimensionen:
Vier Dimensionen von inklusivem Unterricht
1. Einstellung und Haltung der Lehrperson (Akzeptanz aller Lernenden und ihrer Individualität, Wertschätzung der Vielfalt der Lernenden)
2. Curriculare Inklusion (systematische Lernverlaufsdiagnostik, didaktische Integration individualisierter Curricula, adaptiver Unterricht und Binnendifferenzierung, optimale Förderung mit spezifischen Förderangeboten, individuelle Lernunterstützung)
3. Soziale Inklusion (Herstellung von Gemeinsamkeit durch Kooperation der Lernenden, aktive Austausch- und Aneignungsprozesse am gemeinsamen Gegenstand, Berücksichtigung situativer Bedürfnisse)
4. Professionelle Gemeinschaft (Co-Teaching und Zusammenarbeit mit Fachpersonen, Assistenzen, Lehrkräften und mit Eltern)
ICF: Aktivitäten und Partizipation
Es zeigen sich Akzentuierungen und Erweiterungen der Konzeption zum adaptiven Unterricht auf der Makro- und Mikroebene (z. B. Co-Teaching und interdisziplinäre Zusammenarbeit, explizite Einbeziehung individualisierter, teilweise lernzielangepasster Curricula, spezifische materiale und soziale Lernunterstützung, z. B. Assistenz). Wie die Forschung zeigt, ist die Umsetzung der Partizipation und fachlichen Förderung von Kindern mit starken Beeinträchtigungen anspruchsvoll. Vor allem der Schweregrad einer Behinderung schränkt die Partizipation im gemeinsamen Unterricht ein (Ianes, Demo & Zambotti, 2014; Pool Maag, 2016). Kinder mit schweren Beeinträchtigungen verbringen zehn bis dreißig Prozent ihrer Schulzeit in separativen Settings (Ianes, Demo & Zambotti, 2014). Die Vielfalt von Methoden, über die eine Lehrperson verfügt, beeinflusst die Partizipationsmöglichkeiten ebenfalls. In Klassen mit Frontalunterricht partizipieren weniger Lernende mit Behinderungen als in Klassen mit projekt- und problemorientiertem sowie kooperativem Unterricht. Dort findet öfter «full-participation» statt (a.a.O., S. 650).
Befunde zu zentralen didaktischen Elementen
Ausgehend von inklusiven Unterrichtssituationen, wurden in einer Schweizer Studie «Bausteine» für den Umgang mit Heterogenität im Unterricht entwickelt (Eckhart, 2010, S. 133). An diesen Entwurf einer multidimensionalen Didaktik angelehnt, werden weitere Befunde aus der empirischen Unterrichtsforschung berichtet und zentrale didaktische Elemente für den adaptiven und inklusiven Unterricht erarbeitet. Es zeigte sich dabei auch Kontroverses. So manche allgemeingültige empirische Aussage erfordert eine differenziertere Betrachtung in Bezug auf Lernende mit besonderen Lernbedürfnissen.
Individualisierung
Obwohl Individualisierung ein empirisch breit abgestütztes didaktisches Prinzip für den Umgang mit Heterogenität darstellt, zeigt die Unterrichtsforschung, dass sich wenig strukturierter Unterricht negativ auf den Lernerfolg von Kindern mit Lernschwierigkeiten auswirkt (Eckhart, 2010). Die Lernwirksamkeit ist nur bei einer erhöhten didaktischen Aufmerksamkeit und einer intensivierten Lernunterstützung durch die Lehrperson gegeben (Scaffolding, kognitive Strukturierung) sowie durch klare und transparente Lernziele (Fraser et al., 1987). Eine förderdiagnostische Vorgehensweise (Klieme & Warwas, 2011, S. 811) sowie lernprozessbegleitende Verfahren der Beurteilung und Förderung in Form von «formative assessment» (Schütze, Souvignier & Hasselhorn, 2018) erhöhen die Wirksamkeit der Individualisierung. Das Abarbeiten von Aufgaben im individualisierten Unterricht mit dem Ziel einer lückenlosen Beschäftigung der Kinder wird aus empirischer Sicht und im Hinblick auf die Lernwirksamkeit kritisch bewertet (Breidenstein & Rademacher, 2017; Martschinke, 2015).
Lernzieldifferenzierung und Lernzielanpassung
Lernzieldifferenzierung und Lernzielanpassung sind wichtige Instrumente für den Umgang mit unterschiedlichen Lernausgangslagen (Eckhart et al., 2011). Für Lehrpersonen ist der Befund bedeutsam, dass ihre Leistungserwartungen durch einen diagnostizierten Förderbedarf bei einem Kind reduziert werden (Pit-ten Cate & Krischler, 2020). Das führt zu unerwünschten Stigmatisierungsprozessen und zu Ungleichbehandlungen im Unterricht (z. B. unterschiedliche Lernziele und Lernaufgaben); diese Prozesse können durch Peers verstärkt werden. Um eine einseitige Fokussierung auf das individuelle Lernen auszugleichen, ist der gemeinsame Unterricht wichtig mit dem Fokus auf gemeinsame Ziele und Aufgaben (Eckhart, 2010, S. 141). Studien zur «Kontakthypothese» belegen, dass nicht die Quantität des Kontakts zu Lernenden mit einer Beeinträchtigung für ihre Akzeptanz in der Klasse ausschlaggebend ist, sondern die Qualität der Begegnung. Positive gemeinsame Erfahrungen stärken die Klasse und die soziale Inklusion aller Kinder (zusammenfassend Eckhart, 2005).
Kooperatives Lernen
Kooperatives Lernen ist im Kontext von Heterogenität wirksam, wenn es strukturiert und geplant ist (multikriteriale Ziele für Teilnehmende und Gruppen), sodass inhaltliche Ziele erreicht werden können und auch Prozesse sozialer Anerkennung gefördert werden. Die Lernenden sollten dafür soziale Fertigkeiten und Regeln der gleichberechtigten Zusammenarbeit erwerben (Johnson, Johnson & Holubec, 2005). Die Bedeutung des dialogischen Lernens wird durch die Forschung zum «accountable talk» gestützt. «Respecting the ideas and feelings of classmates» ist eine von drei zentralen lernwirksamen Dimensionen des Konzepts (Resnick et al., 2018, S. 7). Befunde aus der Lesestrategieforschung zeigen, dass schwache Leserinnen und Leser mit bevorzugten Lernenden aus dem mittleren Leistungssegment die beste Beteiligung am Lesetraining zeigen (time on task). In Kleingruppen mit größerer Leistungsheterogenität fand praktisch keine Beteiligung der schwachen Lesenden statt (Munser-Kiefer, 2014). Aufgaben für das kooperative Lernen mit Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf sollten so gestellt sein, dass ihre Ressourcen und Möglichkeiten für die Bearbeitung notwendig sind (Benkmann, 2009).
Öffnung von Unterricht
Die Öffnung des Unterrichts ermöglicht eine stärkere interessengeleitete Partizipation der Lernenden, sie fördert ihr Wohlbefinden und ihre Selbstständigkeit und erleichtert die Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen (Bohl & Kucharz, 2013; Hartinger & Hawelka, 2005; Pauli et al., 2003). Sie führt aber nicht zwangsläufig zu fachlichem Lernen. Die höchsten Leistungen in Arithmetik und Algebra erreichen nach Niggli und Kersten (1999) Klassen ohne Wochenplan. Für das mathematische Selbstvertrauen und das Fachinteresse fanden sich weder für die Grundschule noch für die Sekundarschule positive Effekte. Auf der Sekundarstufe hat sich die Kombination von lehrpersonenzentriertem und offenem Unterricht im Kompetenzbereich Leseverständnis bewährt (Kilius, Vieluf & Brümmer, 2018). Lernschwache und verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler erleben Freiräume und Auswahlmöglichkeiten nicht gleichermaßen positiv wie lernstarke. Sie brauchen oft länger, um eine geeignete Aufgabe auszuwählen, und nutzen die Lernzeit dadurch weniger gut (Lipowsky, 2002). Ist die Aufgabe klar, können auch lernschwache Kinder von einem offenen Unterricht profitieren (Hartke, 2003). Dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung kann nach Hartinger (2005) auch durch die Wahl des Arbeitsorts oder der Mitlernenden begegnet werden, anstatt mit offenem Unterricht. Verstehensorientierter offener Unterricht stellt hohe Anforderungen an die fachdidaktische, organisatorische und lernmaterialbezogene Strukturierung des Lernens (Eckhart, 2010). Vor allem Lernhilfen, die eng mit der Lernaufgabe verbunden sind, können einen Teil der kognitiven Strukturierung übernehmen, die bei der direkten Instruktion von der Lehrperson geleistet wird. Gerade bei schwachen Schülerinnen und Schülern ist der Lernerfolg von der Struktur der Lernmaterialien und der Arbeitsintensität (aktive Lernzeit) abhängig (Hartke, 2003).
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