Daher nickte ich auf Samiras Frage hin.
„Ja, dieses Hobby ist viel zu kurz gekommen. Ich würde gerne wieder damit anfangen.“
Samira sah mich nachdenklich an und lächelte dann verschmitzt.
„Dann kannst du mir sicher für mein Tanzstudio schöne Fotos für die Website erstellen, oder? Ich sehe, es war wirklich eine gute Entscheidung dich anzusprechen.“
Ich grinste.
„Sicher, das bekommen wir hin.“
Sie jubelte und umarmte mich unerwartet und nach kurzer Überraschung erwiderte ich die Umarmung.
Sie löste sich von mir, schob mich aber nur eine Armlänge von sich.
„Hast du schon etwas Besonderes vor heute?“
Ich druckste ein bisschen herum.
„Eigentlich nicht … und wir sollen uns ja bedeckt halten.“
Sie sah mich skeptisch an.
„Und du willst ganz brav sein und dich langweilen?“
Ich kicherte.
„Lass mich raten. Du hast schon etwas Bestimmtes im Kopf?“
Sie riss die Arme hoch.
„Aber natüüürlich! Heute Abend ist ein Konzert. Der Haken ist, dass es in einer Bar in der gelben Zone ist. Bist du trotzdem dabei? Du könntest deine Kamera mitnehmen und coole Fotos machen! Ich kenne die Besitzerin der Bar, sie würde sie dir vielleicht abkaufen, wenn sie gut sind!“
Ich machte große Augen. Sie war schon zwei Wochen hier und schien schon 100 Leute zu kennen. Das Angebot klang gut. Zu gut. Eigentlich hätte ich es abgelehnt. Es wäre vielleicht gut, sich einen Tag mal nicht in der gelben Zone herumzutreiben. Aber sie lockte mich ganz schön mit meinem Hobby. Und wenn ich damit ein bisschen Geld verdienen konnte, wäre das großartig. Der Umzug hierher hatte mich viel Geld gekostet und meinen Job trat ich ja erst nächste Woche an. Das würde bedeuten, dass ich diesen Monat nicht sehr viel Gehalt oder was auch immer bekommen würde.
Ich sah ihr in die Augen, sie stand ja immer noch sehr nah bei mir. Ich ließ mich von ihrer Euphorie wirklich anstecken.
„Okay, aber nur, wenn wir den Rest des Tages in der blauen Zone bleiben!“
Sie strahlte mich wieder mit ihrem umwerfenden Lächeln an und umarmte mich dann erneut überschwänglich. Zusätzlich hüpfte sie dabei noch und jauchzte. Langsam fragte ich mich, ob sie 16 war oder in meinem Alter. Bei Gelegenheit sollte ich sie mal danach fragen.
„Super, ich freue mich sooo sehr. Ich hole dich dann gegen 22 Uhr hier ab? 23 Uhr ist Einlass. Wir brauchen nur 15 Minuten bis dahin. Zieh dich nicht zu sexy an, sonst verblasse ich neben dir! Und vergiss deine Kamera nicht!“
Sie wartete nicht mal meine Antwort ab. Sie umarmte mich wieder, drehte sich um und rannte zur Tür. Sie warf mir noch eine Kusshand zu, während sie in ihre Schuhe schlüpfte und schmiss die Tür hinter sich ins Schloss.
Ich stand da, wieder mal total perplex. Ich dachte eigentlich, dass wir den Tag zusammen verbringen würden, aber dem war wohl nicht so. Aber gut, auch okay.
Als ich gerade überlegte, ob ich nochmal ins Bett gehen wollte, klingelte es wieder. Unerwarteterweise stand James vor der Tür. Ich öffnete ihm, er wirkte wie auf dem Sprung. Er war gerade dabei seine Jacke glatt zu streichen und hielt mir die Hand hin. Darin lag eine Card und als ich nicht schnell genug reagierte, wedelte er damit vor mir herum.
„Sorry, Luca, ich hab wenig Zeit. Mir wurde gesagt, dass es besser wäre, wenn du jetzt schon die U-Bahn-Card bekommen würdest. Hier, nimm!“
Damit drückte er sie mir in die Hand und wandte sich wieder zur Treppe, um sie hinabzulaufen. Ich hörte nur noch ein halblautes:
„Und bitte versuche keinen Ärger zu verursachen, ja? Nur ein kleiner Ratschlag von mir …“
Und schwupps war er weg. Mit der U-BahnCard in der Hand schloss ich die Tür. Nun war ich endgültig nicht mehr müde. Von wem bekam James eigentlich seine Anweisungen? War diese vorgezogene Übergabe eine Folge von dem gestrigen Abend? Vielleicht wollte jemand ja nicht, dass ich nachts alleine durch die halbe Stadt lief…Ich dachte kurz darüber nach, ob der Bürgermeister sich um mich ängstigte und dann James diesen Auftrag gegeben hatte? Ich grinste. Na, jetzt hatte ich mich von den paranoiden Gedanken Samiras anstecken lassen und sah in allem eine Verschwörung. So wichtig war ich nun doch wieder nicht. Ich seufzte, legte die Card in den Flur und ging unter die Dusche.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, meine Kamera in Schuss zu bringen, ein bisschen in meiner Wohnung zu knipsen und mit den Einstellungen und dem Licht herumzuspielen. Aber irgendwann fiel mir wie immer die Decke auf den Kopf, denn ich war nie ein Stubenhocker gewesen. Ich brauchte die Bewegung und die Abwechslung. Immer die gleichen vier Wände waren nichts für mich.
Also verließ ich gegen Mittag das Haus und suchte mir ein Restaurant zum Essen. Alleine essen war zwar auch nicht unbedingt eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, aber da ich meine Kamera dabei hatte, fühlte ich mich nicht ganz so einsam. Sie war mir immer wie eine Freundin vorgekommen, der ich viele Dinge zeigen konnte, wenn ich unterwegs war. Und sie fing diese Dinge als Erinnerung für mich ein und speicherte sie.
Ich achtete darauf, dass ich die blaue Zone auch wirklich nicht verließ und sah mich in den Straßen um. Es gab viele unterschiedliche Restaurants, aber auf nichts auf deren Speisekarten hatte ich wirklich Appetit. Umso mehr ich herum lief, desto mehr Fragen warf diese Stadt bei mir auf. Es war sehr interessant, dass es hier keinen Autoverkehr gab. Das einzige öffentliche Verkehrsmittel war die U-Bahn. Oberirdisch war alles eine Fußgängerzone und die schnellsten Gefährte waren Fahrräder. Natürlich musste man ab und zu mal Platz machen, wenn die Feuerwehr oder ein Krankenwagen durch die Stadt fuhr. Aber das waren die einzigen Autos, die ich bisher gesehen hatte. Ich fragte mich, wie die ganzen Waren für die Geschäfte von A nach B geliefert wurden. Und Polizei hatte ich bisher auch nicht gesehen. Dadurch, dass die Straßen auch zur Fußgängerzone gehörten, hatte man viel Platz zum Flanieren und brauchte nicht ständig irgendwelchem Gegenverkehr auszuweichen oder sich anrempeln zu lassen. Das gab einem das Gefühl, als würde man in einem Urlaubsort außerhalb der Saison die Straßen. Das gefiel mir jedenfalls gut.
Die Sonne schien heute wieder, dieser Sommer war bisher sehr schön. Zwar regnete es auch ab und zu, aber das war dann sogar angenehm, weil es einen ein wenig abkühlte. Auch heute war es heiß, es waren über 30 Grad Celsius angesagt. Jetzt um die Mittagszeit erreichte die Hitze langsam ihren Höhepunkt und ich schwitzte, obwohl ich nur ein kurzes ärmelloses Top anhatte.
Plötzlich gab es einen lauten Knall hinter mir. Ich hatte gerade meine Kamera eingeschaltet und einen alten Hydranten fotografiert. Mir rutschte fast die Kamera aus der Hand. Ich drehte mich um und stellte fest, dass ein weiterer Hydrant, 50 Meter entfernt, regelrecht geplatzt war. Ein Riesenschwall Wasser schoss daraus empor. Die Menschen drumherum griffen sich ans Herz oder hatten sich sogar geduckt, so laut war der Knall gewesen. Aber nach einer kurzen Erholungspause reagierten sie sehr lustig. Die meisten lachten los und stellten sich unter den Wasserregen, der sich durch den Wind über die ganze Straße verteilte. Durch die hochstehende Sonne und die Reflexionen von den Fenstern entstanden mehrere kleine Regenbögen in der Luft, was die Menschen noch ausgelassener werden ließ. Einige fingen sogar an zu tanzen und „It’s Raining Men“ zu singen.
Nach kurzer Verblüffung richtete ich meine Kamera auf die Szenerie und knipste ein paar Fotos von den tanzenden Menschen. Dann ging ich näher heran und machte noch ein paar Aufnahmen von den Regenbögen und der Stadt oder den Hydranten im Hintergrund, ohne die Menschen. Natürlich musste ich aufpassen, dass dabei meine Kamera nicht nass wurde, aber diese Herausforderung machte es nur noch spannender für mich. Ich spielte mit den Lichteinstellungen und freute mich, so außergewöhnliche Dinge fotografieren zu können.
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