Sein Blick richtete sich jetzt wieder auf mich.
Ich fühlte mich an den Pranger gestellt, so als würde meine Mutter mich ausschimpfen. Wieder regte sich Trotz in mir. Doch ich schluckte ihn diesmal hinunter und zuckte nur mit den Schultern.
Samira sah mich und ihn immer noch abwechselnd sehr nachdenklich an. Der Bürgermeister räusperte sich und seine Stimme wurde weicher, fast schon liebevoll.
„Ich wäre euch sehr verbunden, wenn euer erster gemeinsamer Abend hier jetzt beendet wäre und ihr den Nachhauseweg antreten würdet. Ich denke, ihr habt genug erlebt heute. Gerne könnt ihr in zwei, drei Wochen wieder herkommen, wenn ihr noch ein paar Gespräche hinter euch habt und Luca vielleicht auch schon ihren ersten Job angetreten hat. Die Stadt rennt euch ja nicht weg und auch der Nervenkitzel nicht, oder?“
Mir fiel auf, dass er meinen Namen benutzte, obwohl ich ihm den niemals genannt hatte. Viel mehr nervte es mich aber, dass er mich tatsächlich bemutterte, obwohl ich ein erwachsener Mensch war. Natürlich hatten seine Worte als Bürgermeister noch mal ein ganz anderes Gewicht. Schließlich konnte er ja vielleicht entscheiden, ob ich in der Stadt bleiben durfte oder schon am zweiten Tag disqualifiziert wurde.
Ich nickte widerwillig. Samira sah mich verblüfft an. Anscheinend hatte ich sie schon wieder enttäuscht. Der Bürgermeister nickte auch und verabschiedete sich per Händedruck von uns beiden. Na, wenigstens hat er uns nicht noch zum U-Bahnhof begleitet oder uns mit der Security nach Hause geleitet. Beides hätte ich ihm durchaus zugetraut.
Samira und ich gingen schweigend nach Hause. Zu Fuß, denn ich hatte ja immer noch keine U-Bahn-Card. Sie verabschiedete sich mit einem Gruß von mir und ging dann weiter, als wir an meiner Haustür ankamen. Nicht mal eine Umarmung. Das hatte ich jetzt von Samira schon erwartet, aber der Abend lief wohl wirklich nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Als ich im Bett lag, fiel mir ein, dass ich auch vergessen hatte, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Ich seufzte. Da hatte ich die erste Frauenfreundschaft in der neuen Stadt wohl schon versaut. Nach meinem zweiten Tag. Ein persönlicher Rekord.
Mir kamen kurz die Tränen, doch ich schluckte sie hinunter. Diese Blöße wollte ich mir vor mir selbst nicht geben. Ich war nie eine Person gewesen, die sich in Selbstmitleid suhlte. Ich wollte immer kämpfen. Kämpfen für meine Träume– und mit dem Umzug in die Stadt war der erste Schritt getan. Von so einem Fehlschlag ließ ich mich nicht unterkriegen. Mit diesem Entschluss schlief ich nach dem sehr langen und aktionsreichen Tag ein.
Kapitel 6
Aber meine Nacht war nicht so besonders. Ich wachte oft auf und meine Gedanken wirbelten durcheinander. Mehrmals hatte ich den Tag in meinem Kopf noch mal neustarten lassen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er verlaufen wäre, wenn ich mich an bestimmten Punkten anders entschieden hätte.
Wäre ich dann mit dem Ergebnis zufriedener gewesen? Ich merkte irgendwann, dass mich die Gedanken darüber nicht weiter brachten. Ich sollte stolz auf mich sein, darauf, dass ich schon so viele Menschen kennen gelernt hatte. Dass ich schon so viel ausprobiert hatte. Dass ich mich durch nichts abschrecken ließ. Und das würde ich auch weiterhin tun.
Mit diesem Gedanken schlief ich endlich gegen 3 Uhr morgens fest ein. Und wurde unsanft von der Türklingel wachgerissen. Ich sah auf den Wecker, es war kurz nach 8 Uhr.
Ich überlegte kurz, aufstehen oder weiterschlafen sollte. Aber das Klingeln hörte nicht auf und war sehr penetrant. Also setzte ich mich seufzend auf, nahm meinen Bademantel und warf ihn über. Ich schloss ihn nur halb und schlurfte zur Tür.
Als ich sie öffnete, staunte ich nicht schlecht. Eine gut gelaunte Samira stand vor mir mit Brötchen, Einkaufstüten und frischen Coffee to go. Sie wartete nicht ab, bis ich mich von dem Anblick erholt hatte, sondern trat einfach an mir vorbei und verschaffte sich so Zutritt in meine Wohnung.
Sie suchte und fand meine Küche in Windeseile und packte die Sachen aus. Dabei schnatterte sie unentwegt und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ihre Worte mein Gehirn erreichten und verarbeiten konnten.
„Mann, war das eine coole Nacht gestern, du hast erst so fantastisch mit mir getanzt, dann dieser komische Hendrik und dann die Bar und der Bürgermeister. Das war so abgefahren! Wie ich ihn zur Rede gestellt habe und dann: ups, war ja nur das Oberhaupt der Stadt. Und wie war der bitte drauf? Wie der dich angeschaut hat, als wärst du sein Besitz oder sein Hündchen, das böse war oder so. Der Abend war so anders als erwartet … oder auch nicht, ich meine, ich hab ja damit gerechnet, dass es mit dir nicht langweilig wird. Aber das? Echt genial!“
Sie strahlte mich an und erwartete wohl eine Reaktion von mir. Ich schüttelte den restlichen Schlaf von mir und öffnete meinen Mund, aber sehr geistreiche Worte kamen nicht heraus.
„Äh, aber … du hast doch den ganzen Weg geschwiegen und … ich dachte, du … magst mich nicht mehr und du hast mich nicht umarmt und so.“
Sie starrte mich verblüfft an und lachte dann los.
„Was? Aber wieso? Der Abend war doch phänomenal! Nein, nein. Ich habe geschwiegen, weil gestern so viele abgefahrene Dinge auf einmal passiert sind und ich erst mal mein Gehirn ordnen musste. Der Bürgermeister war so strange drauf und ich war ganz in Gedanken, weil ich versucht habe, ihn zu verstehen. Zum Beispiel, warum er ausgerechnet in dieser Bar war. Ich habe nämlich seit Längerem eine Vermutung. Ich glaube, die Newbies haben in den Armbändern so Peilsender drin, womit man sie orten kann. Wäre doch abgefahren, wenn der Bürgermeister wüsste, wo jeder Newbie zu finden ist, oder?“
Diesmal sah ich sie groß an. Ach so, das war also ihre Art mit vielen neuen Informationen umzugehen und ich dachte schon, dass sie mich nun nicht mehr leiden konnte, weil ich sie so oft enttäuscht hatte an dem Abend. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet …
Ich dachte kurz über ihre Vermutung nach. Mein Blick ging zu meinem Armband. Es war aus blauem Gummi und tatsächlich etwas dicker. Man könnte darin wohl einen Peilsender verstecken. Aber das wäre wirklich zu viel Überwachung … diese Stadt prahlte doch mit Freiheit und der Schätzung jedes einzelnen Individuums. Ich versuchte mich in dem Stil von Samira und antwortete:
„Das wäre ja echt megakrass.“
Meine Rechnung ging auf, denn sie schenkte mir ein weiteres Freudestrahlen.
„Ja, oder?“
Sie setzte sich zufrieden an den Tisch und ich gesellte mich zu ihr. Wir spekulierten noch eine Weile darüber, ob das hier eine Überwachungsstadt wäre und was der Bürgermeister wohl noch alles so aushecken könnte mit der Macht, die er hatte. Und dass ich mich ihm ja an den Hals werfen könnte, um die Macht für uns zu nutzen. Lauter unsinniges Zeug eben. Es war echt schön, so ausgelassen hatte ich schon lange nicht mehr herum gealbert mit einer Gleichaltrigen.
Dann kam sie plötzlich auf ein anderes Thema.
Sie zeigte auf etwas an der Wand und fragte mich, ob das mein Hobby wäre. Mein Blick folgte ihr und ich nickte.
Umfrage 6-1: Was ist Lucas Hobby? An der Wand hingen…? Das stand zur Auswahl:
1 Landschaftsfotografien und in der Mitte ein Regal mit meiner geliebten Kamera.
2 Meine drei Lieblings-Longboards
3 Ehrenurkunden, für meine ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus.Kapitel 6-1 – Hättest du genauso entschieden?
Zusätzlich durften die Leser entscheiden, welche Frisur Luca haben soll. Sie haben sich für lange rotbraune und glatte Haare entschieden.
Sie zeigte auf die Landschaftsfotografien und meine geliebte Kamera. Die letzten Monate kam ich nicht viel zum Fotografieren. Dieses Hobby war in den Hintergrund geraten, ich hatte den Fokus darauf verloren. Aber in der neuen Stadt hatte ich vor, dieses Hobby wieder aufleben zu lassen. Zwar würde ich hier nicht so viele ausgefallene Landschaften finden, aber ich hatte eh vor, mein Fotografie-Portfolio auszubauen und zu verändern. Ich wusste noch nicht genau in welche Richtung. Ob Mikrofotografie, Kuriositäten, Personenfotografie oder was ganz anderes. Aber ich freute mich, wieder hinter die Kamera zu gehen und Bilder einzufangen.
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