Terenkow war ein Revolutionär reinsten Wassers und bereit, für den geplanten Umsturz jedes Opfer zu bringen. Was zählte da eine Xenia Lasarowa?
Lenin hatte einmal von den ›nützlichen Idioten‹ gesprochen, den Steigbügelhaltern seiner Machtübernahme, und nicht anders bewertete Terenkow die Tochter von Graf Pawel Lasarow. Sie sollte sein ganz persönlicher ›nützlicher Idiot‹ sein.
Xenia kannte viele Leute, die am Zarenhof eine wichtige Rolle spielten, verkehrte in den besten Häusern und konnte ihm auf diese Weise manche wertvolle Information liefern. Und genau das war es, was sie für Terenkow so wertvoll machte. Daß sie zudem jung und hübsch war, war in seinen Augen eine angenehme Zugabe.
Von jenem Mittag an trafen sie sich zwei- oder dreimal wöchentlich in der kleinen Parkanlage hinter der Erlöserkirche, gingen spazieren, wenn das Wetter es erlaubte, oder tranken Tee in einem der zahlreichen Lokale zwischen der Fontanka und dem Katharinen-Kanal.
Dort standen enge hohe Häuser mit schmutzigen Hinterhöfen, es war ein schlecht beleumundetes Viertel, aber es hatte den Vorteil, daß Xenia hier auf keinen Bekannten stoßen würde.
Terenkow wohnte in der Nähe; er hatte zwei Dachzimmer in der Stoliarnyj Pereulok gemietet, und als er Xenia das erste Mal dorthin mitnahm, war sie entsetzt, in welcher Armseligkeit er lebte.
Die kleinen Fenster gingen auf einen Hinterhof mit geschwärzten Brandmauern hinaus, der Gestank von Müll und Katzenkot wehte herauf, wenn man sie öffnete, und die kärgliche Einrichtung – ein Tisch, zwei wacklige Lehnstühle, ein wurmstichiger Schrank und eine ebensolche Anrichte – war zerschlissen und voller Flecken.
Durch die halboffene Tür waren ein ungemachtes, zerwühltes Bett und ein emailliertes, halb verrostetes Gestell mit Waschschüssel und Krug zu sehen.
Terenkow gewahrte Xenias schockierte Blicke und lachte. »Ich weiß, du hast es feiner daheim. Aber mir genügt es. Außerdem kann ich schnell von hier verschwinden, falls es einmal nötig sein sollte. Vom Fenster aus führt eine Feuerleiter in den Hof, und durch die Keller und andere Hinterhöfe ist man weg wie eine Ratte, die hundert Schlupflöcher hat.«
Er fegte einen Stapel Broschüren und Schriftstücke von einem der Stühle. »Komm, setz dich. Du brauchst keine Angst zu haben, Wanzen gibt es hier nicht. Und die Alte, von der ich die Zimmer gemietet habe, kommt auch nicht gleich heraufgestampft und schreit Zeter und Mordio, weil ich ein Mädchen bei mir habe. So was ist man hier gewöhnt.«
Xenia gehorchte und zog ihr dunkelgrünes Cape, das an der Innenseite mit einem karierten Schottenstoff gefüttert war, enger um sich. »Es ist kalt«, sagte sie, und Terenkow ging zu dem Ofen in der Ecke.
»Warte, ich mach’ uns Feuer. In zehn Minuten ist es warm.«
Sie beobachtete ihn, wie er Papier und Holzspäne aus einem Korb nahm und in die Feuerstelle schichtete. Dann entzündete er das Papier, und gleich darauf züngelten die ersten Flämmchen hoch.
Er blies ein wenig hinein und legte Holz nach. Dann stand er auf und holte aus der Anrichte eine Flasche und zwei Gläser. »Es ist guter Wodka, kein Fusel. Trink einen Schluck, der wärmt dich zusätzlich von innen.«
Sie hatte noch nie Wodka getrunken, und der scharfe Alkohol ließ sie husten. Er rann ihre Kehle hinunter in den Magen, und gleich darauf verspürte sie tatsächlich eine angenehme Wärme, die sich in kleinen Wellen in ihr ausbreitete.
Terenkow lachte, weil sie das Gesicht verzog, und leerte sein Glas in einem Zug. Dann ging er vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hände. »Warum sagst du nichts? Hast du Angst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Müßte ich das denn?«
»Vermutlich bist du zum ersten Mal mit einem Mann in dessen Wohnung allein. Und dann noch mit einem so ungehobelten, unberechenbaren, auf dessen gute Manieren man nicht bauen kann. Meine kleine Gräfin, was bist du doch für ein leichtsinniges Geschöpf!«
Sie wollte ihre Finger zurückziehen, doch er hielt sie fest und legte sie gegen seine Wange. »Oder bin ich gar nicht der erste bei dir? Hast du schon deine verbotenen Spielchen gespielt?«
»Nein«, sagte sie. »Und ich bin auch nicht hergekommen, um jetzt damit anzufangen. Ich wollte sehen, wie du lebst, das war alles.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Oh, was sind wir doch für eine Heuchlerin, meine teure Xenia Pawlowna! Für was hältst du mich? Für einen grünen Jungen wie deinen Pjotr Dobrowjew? Den kannst du vielleicht mit einem Wink deiner hübschen Augen dirigieren und ihm weismachen, daß du ein tugendhaftes Mädchen bist, das man nur aus der Ferne anhimmeln darf. Aber ich habe vom ersten Augenblick an gemerkt, daß du Feuer im Hintern hast und wie sehr es dir gefällt, wenn ich dich berühre. Also gib es ruhig zu.«
Sie biß die Zähne zusammen, um das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken, als er ihre Brust umfaßte und mit der Daumenkuppe darüberstrich.
»Das ist doch nicht wahr. Ich habe nie ... Bitte, laß mich los!«
Er gab keine Antwort, sondern fing an, sie wild und zügellos zu küssen. Xenia drehte vergeblich den Kopf hin und her, um ihm zu entkommen. Als die die Arme gegen ihn stemmen wollte, drückte er sie so fest an sich, daß sie keinen Finger mehr rühren konnte.
»Wehr dich doch nicht. Sag lieber, daß du es willst, genauso sehr wie ich. Los, sag es ...«
»Nein«, würgte sie hervor. »Bitte, ich will gehen ...«
Er gab sie so abrupt frei, daß sie taumelte und in den Lehnstuhl zurückfiel. Während er seinen Atem zur Ruhe zwang, musterte er sie aus schmalen, funkelnden Augen. Dann sagte er leise: »Ich bin dir nicht gut genug, was? Du bist zwar scharf auf mich, aber gleichzeitig schaudert deine hochadlige Seele vor mir zurück. Der dreckige Muschik, der in einer Dachkammer haust ... An so etwas wirft sich eine Lasarowa nicht weg. Gut, dann geh. Beweg deinen verdammten Hintern und verschwinde!«
Fast hätte er gelacht, als sie genauso reagierte, wie er es erwartet hatte: Sie blieb sitzen, die Hände im Schoß verkrampft, und blickte unglücklich zu ihm hoch.
»Du siehst das falsch, Grischa. Ich bin wirklich nicht hochmütig. Man sucht sich das Haus nicht aus, in dem man geboren wird. Aber du warst plötzlich so anders ... so gewalttätig. Das hat mich erschreckt.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht, mein Kind. Wenn ich zu deinen adligen Vornehmtuern gehörte oder wenigstens ein gutbetuchter Bourgeois wäre – mit Haus und Dienerschaft, hättest du mich nicht zurückgewiesen. Aber du hast schon recht: Was willst du mit einem wie mir? Ich nehme dich höchstens in den Dreck mit, in dem ich lebe. Unsereins steht doch immer mit einem Bein im Gefängnis oder riskiert, zum Krüppel geschossen, von Kosakenpferden niedergeritten oder nach Sibirien geschickt zu werden. Nein, nein, du hast vernünftig gehandelt, daß du dich da nicht hineinziehen läßt.«
Seine Stimme klang bitter, und der Blick, mit dem er Xenia bedachte, war so verletzt und voller Traurigkeit, daß ihr das Herz schmolz.
»Du hältst mich für feige, was?« fragte sie. »Du meinst, ich hätte das alles nur dahergeredet, was ich dir über meine Einstellung zu euren Zielen gesagt habe. Aber das ist nicht wahr. Ich bewundere dich, daß du für eine neues, besseres Rußland kämpfst und dafür deine Sicherheit aufs Spiel setzt, und ich wünsche, ich könnte dir dabei helfen. Für mich bist du kein dreckiger Muschik, Grischa, sondern ein sehr mutiger, selbstloser Mann, der freiwillig ein so armseliges Leben führt, weil er sich seine Ideale nicht abkaufen läßt.«
Er hatte ihr inzwischen erzählt, daß er aus einem wohlhabenden, angesehenen Elternhaus stammte, dessen Tür ihm wegen seiner politischen Überzeugung verschlossen war, und das hatte Xenia sehr beeindruckt.
Sie stand auf und ging auf Terenkow zu. Mit einer scheuen Bewegung legte sie die Hände auf seine Brust und schmiegte ihre Wange gegen den rauhen Stoff seines Hemdes.
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