Rußland brauchte Reformen. Der Zar mußte dem Volk eine Verfassung und, wie in anderen Ländern, eine frei gewählte parlamentarische Vertretung zugestehen.
»Das«, so sagte Pjotr, »ist der einzige Weg, um Schritt für Schritt das Elend der Arbeiter und Bauern zu verbessern, ein vernünftiges Sozialwesen zu begründen und die ererbten Vorrechte einer zahlenmäßig geringen Oberschicht abzubauen.«
An diesem Nachmittag war Xenia mit Pjotr in einer Teestube am Heumarkt verabredet. Dort fanden in einem Hinterzimmer in unregelmäßigen Abständen geheime Treffen der Sozialdemokraten statt. Sie kamen immer nur in kleinen Gruppen zusammen, falls die Geheimpolizei ihre Versammlungen aufspürte.
Pjotr empfing Xenia bereits in der Teestube. Er küßte sie auf beide Wangen. »Schön, daß du da bist. Terenkow hat etwas mitgebracht, das dich gewiß interessieren wird.«
Terenkow war ein Deckname, das wußte Xenia. Viele, die hierherkamen, benutzten falsche Namen.
Der Mann, der sich Terenkow nannte, saß im Hinterzimmer an einem großen Holztisch, und der Raum wurde nur durch eine Gaslampe erhellt. Zwei Männer und eine hagere, grobknochige Frau um die Dreißig waren bei ihm.
Xenia war Terenkow noch nie begegnet, aber Pjotr hatte ihr von ihm erzählt. Er sei in Minsk bei der Parteigründung dabeigewesen und ein Vertrauter von Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich inzwischen Lenin nannte. Während Lenin in der Verbannung in Sibirien gewesen sei, habe Terenkow durch Mittelsmänner ständig Kontakt mit ihm gehabt und in seinem Sinne die Untergrundarbeit der gleich nach ihrer Gründung verbotenen Partei fortgesetzt.
Als Pjotr und Xenia den Raum betraten, blickte Terenkow die junge Frau überrascht an. »Wer ist das?«
»Sie heißt Xenia«, erklärte Pjotr. »Sie gehört noch nicht zu uns, aber sie sympathisiert mit unseren Zielen. Du kannst beruhigt sein, Terenkow, sie wird uns nicht verraten.«
Dessen Miene verfinsterte sich. »Es war ausgemacht, daß keine Neuen mitgebracht werden sollten. Du hast gegen die Abmachung gehandelt.«
Er war ein großer, vierschrötiger Mann mit einem eigentlich häßlichen Gesicht. Dennoch faszinierte er durch das leidenschaftliche Feuer, das von ihm ausging. Er gehörte zu den Menschen, die, wenn sie einen Raum betraten, sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Pjotr legte den Arm um Xenia. »Ich sage dir doch, von ihr droht keine Gefahr. Ich bürge für sie.«
Die Frau, die am Tisch saß, stand plötzlich auf. Sie nahm die Lampe auf und leuchtete Xenia ins Gesicht. »Irgendwoher kenne ich sie. Aber ich weiß nicht ...« Sie brach ab. »Wie heißt sie noch außer Xenia?«
»Lasarowa«, antwortete Xenia, von dem scharfen, feindseligen Blick der Frau unangenehm berührt. Als Pjotr zischend den Atem ausstieß, begriff sie, daß sie offenbar einen Fehler gemacht hatte.
Die Frau wich zurück. »Xenia Pawlowna, was? Eine von der Lasarow-Brut!« Sie fuhr zu Terenkow herum. »Weißt du, wer das ist? Die Tochter von Graf Pawel Lasarow! Laß uns verschwinden, ehe sie uns die Ochrana auf den Hals hetzt. Ich kenne sie, ich hab’ sie ein paarmal gesehen, wenn sie mit ihrer feinen Mama und den Schwestern ausfuhr.«
»Stimmt das?« fragte Terenkow. Er fixierte Xenia, als schätze er ab, ob man sie als harmlos einstufen oder am besten auf der Stelle eliminieren sollte.
Sie nickte. »Ja, aber was hat das damit zu tun, daß ich jetzt hier bin? Pjotr und ich sind Freunde. Ich weiß vieles von ihm und euch. Wenn ich euch hätte verraten wollen, hätte ich es längst tun können.«
»Und warum bist du hier?«
»Weil Pjotr sagte, es wäre vielleicht interessant für mich. Er möchte, daß ich irgendwann auch zu euch gehöre. Wie kann ich das, wenn ich niemanden von euch kennenlerne?«
»Laß uns verschwinden!« wiederholte die Frau drängend, doch Terenkow wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Sei still, Sofia!«
Er hatte keinen Blick von Xenia genommen, und auf einmal lächelte er.
»Du bist also neugierig, was? Und du hast ein bißchen Appetit darauf, gegen deine Eltern zu opponieren? Das Grafentöchterlein mit der sozialistischen Ader. Willst vielleicht sogar ein bißchen Revolutionär spielen – aber des Nachts in die Behaglichkeit des gräflichen Bettchens zurückkehren. Morgens heiße Schokolade, mittags Tee mit Kascha in einem verräucherten Hinterzimmer oder einem feuchten Keller – und abends Kaviar, Champagner und französische Seidenroben. Solche wie dich gibt es mehrere. Sie wissen nicht, wie Armut brennt, wie Hunger den Magen zerreißt, Kälte die Glieder krumm macht und Angst die Eingeweide zusammenzieht. Sie haben nur Überdruß und Langeweile, und deshalb suchen sie nach einem neuen Nervenkitzel, den sie nie zuvor gekannt haben. Ist es nicht so?«
»Nein«, antwortete Xenia. Dieser Terenkow ärgerte sie, aber trotzdem übte er eine sonderbare Faszination auf sie aus. Einem solchen Mann war sie noch nie begegnet, gleichzeitig abstoßend und anziehend, von kalter Intelligenz und sprühender Leidenschaftlichkeit.
Sie holte tief Atem. »Ich habe weder Überdruß noch Langeweile, wie Sie das nennen, denn ich gehe noch zur Schule und will im nächsten Jahr Medizin studieren. Meine Eltern werden mir das vermutlich nie erlauben, und so wird mir gar nichts anderes übrigbleiben, als fortzugehen und mich allein durchzuschlagen. Ich muß sehr fleißig sein, damit ich vielleicht ein Stipendium bekomme. Aber ich werde es schaffen.«
Die Frau, die Sofia hieß, lachte schrill. »Glaub ihr kein Wort, Terenkow! Man kennt sie doch, diese adligen Hürchen. Die machen sich nicht die feinen weißen Fingerchen in einem Spital schmutzig, wischen Erbrochenes auf und hätscheln schreiende Bälger mit Krätze und Ungeziefer. Ihre Mildtätigkeit erschöpft sich darin, daß sie ein paar Hände voll Kopeken unter die Leute werfen, wenn sie in ihren Karossen vorüberfahren und man ihnen zuwinkt. Allenfalls lassen sie gelegentlich von der Dienerschaft Suppe und Brot unter den Armen verteilen oder gestatten einem halb erfrorenen Bettler, im Pferdestall zu schlafen, damit er nicht im Frost vor ihrer Haustür krepiert. Ich sage dir ...«
»Halt den Mund, Sofia!« unterbrach Pjotr sie. Er war ganz blaß vor Empörung. »Ich weiß ja, daß du neidisch und giftig bist, aber du wirst dein boshaftes Mundwerk nicht länger an Xenia Pawlowna wetzen. Wenn ich gewußt hätte, daß du heute auch hier bist, hätte ich sie gar nicht mitgebracht.« Er griff nach Xenias Hand. »Komm, wir gehen. Verzeih bitte, daß ich dich diesen Ungelegenheiten ausgesetzt habe.«
Sie machte sich los. »Es sind keine Ungelegenheiten. Ich kann verstehen, daß man mir mit Mißtrauen begegnet, nachdem man weiß, daß mein Vater Graf Pawel Lasarow ist.« Sie funkelte Terenkow an. »Aber das heißt noch lange nicht, daß Sie wissen, wer ich bin. Sie kennen nur meinen Namen.«
Diesmal lachte er. »Sie hat Schneid, die Kleine, das muß man ihr lassen.« Mit einer raschen Handbewegung umfaßte er ihr Kinn und blickte ihr in die Augen. »Von mir aus kannst du bleiben. Und wenn du tatsächlich, wie Sofia befürchtet, ein doppeltes Spiel spielst, dann wird dich das teuer zu stehen kommen. Auch wenn man uns alle hier verhaftet – für einen stehen zwanzig auf, und dann geht es dir an den Kragen, mein hübsches blaublütiges Täubchen.«
Er wandte sich zu den beiden Männern um, die die Szene bisher schweigend beobachtet hatten. »Ljuba, German, seid ihr einverstanden mit meiner Entscheidung?«
»Du wirst schon wissen, was du tust«, antwortete der eine, der wie ein schwarzbärtiger Kaukasier aussah, und der andere hob die Schultern. Er war untersetzt und glatzköpfig, mit rosiger Haut und hellen blauen Augen.
»Ist mir egal, ob sie da ist oder geht. Aber vielleicht hat sie ja die Wahrheit gesagt, und sie kann uns eines Tages sogar nützlich sein, wenn sie Medizin studiert. Wir brauchen immer welche, die unseren Leuten die Kugeln herausschneiden und Wunden vernähen. Damit kann man nicht zu jedem Arzt.«
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