»Dann setz dich zu ihnen an den Tisch«, sagte Terenkow und versetzte Xenia einen freundschaftlichen Stups. »Setzt euch alle. Sofia, schenk Tee ein.«
Die hagere Frau kniff die Lippen zusammen, tat aber, was er von ihr verlangte.
Terenkow hatte indessen ein paar eng beschriebene Seiten aus der Tasche seiner dunkelblauen Kosakenbluse geholt. Er zog die Lampe näher heran und breitete die Blätter auf dem Tisch aus.
»Ich habe eine wichtige Information für euch. Leo Nikolajewitsch Tolstoj hat einen offenen Brief an den Zaren geschrieben. Hierist die Kopie. Ihr könnt sie euch alle nachher durchlesen, aber die wichtigsten Abschnitte will ich zuvor mit euch besprechen.«
Xenia spürte ihr Herz aufgeregt gegen die Rippen schlagen. Leo Tolstoj, der berühmte russische Schriftsteller, von dem ihr Literaturprofessor erst kürzlich in der Schule gesagt hatte, er sei der zweite heimliche Herrscher Rußlands, einer, dessen Thron durch nichts zu erschüttern wäre, hatte sich an den Zaren gewandt ...
Im vergangenen Jahr hatte der Heilige Synod Tolstoj exkommuniziert, wie sie von ihrem Vater wußte, der diesen Schritt natürlich auf das freudigste begrüßt hatte.
Für ihn war der Verfasser von ›Krieg und Frieden‹, ›Anna Karenina‹ und ›Herr und Knecht« ein gottloser, verdammungswürdiger Mensch, der an den heiligen Grundfesten der zaristischen Ordnung rüttelte und seinen eigenen Stand – schließlich war er gräflicher Abstammung – verriet.
Aber Tolstojs Anhängerzahl war seit seiner Exkommunikation noch viel größer geworden, und er selbst scheute sich nicht, in offenen Briefen an Minister und Generäle die russischen Verhältnisse zu kritisieren. Zudem ließ er diese Briefe in ausländischen Zeitungen veröffentlichen.
Darum hatte es bisher auch niemand gewagt, ihm ernstlich etwas anzuhaben, denn das hätte eine Welle der Empörung in ganz Europa ausgelöst und die Vorstellung vom ›barbarischen Rußland‹ wieder voll aufleben lassen.
Und nun hatte Leo Tolstoj sogar an den Zaren geschrieben!
»Sein Brief ist eine ernsthafte und eindrucksvolle Warnung an Väterchen, endlich den Erfordernissen der Zeit Rechnung zu tragen und die reaktionären Bestrebungen seiner Ratgeber und Handlanger im Keim zu ersticken«, sagte Terenkow. »Er schreibt hier:
›Die Autokratie ist eine überkommene Regierungsform, die den Bedürfnissen eines Stammes in Mittelafrika, der von aller Welt abgesondert lebt, genügen mag, aber nicht den Bedürfnissen des russischen Volkes, das sich die Weltkultur immer mehr zu eigen macht. Deshalb kann diese Herrschaftsform ebenso wie die Orthodoxie, die mit ihr verbunden ist, nur mit Mitteln der Gewalt aufrechterhalten werden. Anders ausgedrückt: So, wie es heute durch die Verstärkung der Ochrana geschieht, durch Verbannung, Hinrichtungen, religiöse Verfolgung, Bücher- und Zeitungsverbot und im allgemeinen durch alle Arten von schlimmen und brutalen Maßnahmen ... Sie hätten diese Taten nicht ausführen können, wenn Sie nicht auf den unbedachten Rat Ihrer Mitarbeiter hin das unmögliche Ziel verfolgt hätten, das Leben des russischen Volkes nicht nur anzuhalten, sondern es zu einem früheren völlig überholten Zustand zurückzuführen ...‹«
Terenkow blickte in die Runde. »Was glaubt ihr? Wird dieser Brief etwas beim Zaren bewirken?«
Sofia – sie nannte sich mit Nachnamen, wie Xenia später erfuhr, Burlagina – lachte laut auf. »Empörung, was sonst? Er wird ihn lesen und sich über die Anmaßung ärgern, daß man ihm, dem gottgewollten Herrscher, Vorhaltungen und Vorschriften zu machen wagt. Tolstoj hätte sich mit dem Papier, auf das der Brief geschrieben ist, ebensogut den Hintern abwischen können.«
Der mit Ljuba Angeredete drehte sich eine Zigarette und zündete sie sich an. »Sei nicht so ordinär. Immerhin ist es bekannt, daß Väterchen ein großer Verehrer von Leo Nikolajewitsch ist. Außerdem wissen wir nicht, ob der Brief nicht in irgendeiner großen französischen oder belgischen Zeitung abgedruckt wird. Oder sogar in einer russischen. Vielleicht in der ›Iskra‹ oder ›Oswoboschdjenije‹. Wir sollten dafür sorgen, daß das geschieht. Dann kann der Zar den Brief nicht ignorieren.«
»Darum habe ich mich bereits gekümmert«, erwiderte Terenkow. »Struwe in Paris ist der Text zugegangen.«
»Struwe ist dafür nicht mehr der richtige Mann!« warf der rundliche German ein. »Er war mal ein scharfer Hund, aber inzwischen sind ihm die Zähne ausgefallen, und er predigt Mäßigung. Veränderungen – natürlich, aber um Himmels willen nur ja nicht durch Gewalt, sondern mit schleimscheißerischer Verhandlungstaktik! Er jammert über jeden Aufruf zum Klassenkampf, zetert in seiner Zeitschrift über die Semstwos, die ihre Befugnisse überschreiten, wenn sie die allgemeine Schulpflicht und die Abschaffung der Körperstrafe fordern, und hebt diese samtweichen Intellektuellen in den Himmel, die in ihren Utopien von einer weisen Beschränkung des Zarentums sprechen und in einet demokratischen Verfassung das Heil für Rußland sehen.«
»Struwe soll den Brief ja nur abdrucken«, widersprach Terenkow. »Seine Zeitung wird überall gelesen, und gerade die von dir so geschmähten Intellektuellen, ob sie nun der ›Einheit für die Befreiung‹ oder anderen gemäßigteren Organisationen angehören, werden dadurch erfahren, daß ihr hochverehrter Tolstoj wesentlich radikaler als sie selber denkt. Das kann nur gut sein.«
»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Pjotr zu. »Und vielleicht ist Tolstojs Brief ein erster Schritt zur Annäherung zwischen solchen Gemäßigten und uns.«
»Spinner sind das«, murrte German. »Auf die können wir leicht verzichten.«
Xenia hatte sich indessen die Kopie von Tolstojs Brief herangezogen und studierte ihn Satz für Satz. Die Eindringlichkeit seiner Vorhaltungen, die Leidenschaft, mit der er sich für ein neues Rußland einsetzte, und seine Liebe zu den Abertausenden, deren menschenunwürdiges Dasein er verbessern wollte, bewegten sie zutiefst.
Terenkow hatte sie beobachtet und setzte sich plötzlich neben sie auf die Holzbank. »Na, mein Täubchen, was hältst du davon? Ist deine zarte adlige Seele entsetzt, daß Graf Tolstoj es wagt, in solch einem Ton mit dem erlauchtigsten Herrscher aller Rußen zu reden?«
Heftig schüttelte Xenia den Kopf. »Nein, es ist wunderbar, was er schreibt, und vollkommen richtig. Der Zar kann und wird sich dem nicht verschließen.«
»Wenn er vorher nicht seine ›liebe Alix‹ um Rat fragt«, versetzte Terenkow sarkastisch. »Sie wird ihm schon beibringen, daß der gesalbte, gekrönte Herrscher so hoch über allen anderen Sterblichen steht wie der Mond, den die Hunde anbellen.«
Er legte Xenia den Arm um die Schultern, und die Berührung traf sie, als wäre sie mit einem bloßliegenden elektrischen Stromkabel in Kontakt gekommen. »Du kennst den Zaren persönlich, nicht wahr?«
Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Sinn seiner Frage zu begreifen. Dann nickte sie. »Ja, ich bin ihm vor zwei Jahren vorgestellt worden und seitdem noch einige Male bei Hof begegnet. Er ist, glaube ich, ganz anders, als die meisten vermuten.«
»Der gute, liebe Nicky, was?« spottete Terenkow. »Blauäugig, edelmütig und nachgiebig. Ein Kleinbürger reinsten Wassers. Mag sein, daß das bis zu einem gewissen Grade auf ihn zutrifft. Aber für den Zaren von Rußland sind es absolut unpassende, ja, gefährliche Eigenschaften.«
Er drückte ihre Schulter. »Ich könnte dir einen langen Vortrag darüber halten, aber ich will dich nicht gleich bei unserem ersten Kennenlernen allzu sehr schockieren, meine kleine Gräfin. Vielleicht sehen wir uns ja öfter, und dann wirst du – wenn du so klug bist, wie es den Anschein hat – sehr schnell dahinterkommen, warum wir diesen Zaren so satt haben, daß wir ihn aus vollem Herzen zum Teufel wünschen.«
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