Xenia riß die Kutschentür auf. »Ich weiß nicht, warum ich mir das anhören soll! Halt an, Kutscher, ich will aussteigen.«
Verletzt und zornig blickte sie Terenkow an und konnte es nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen schossen. »Was habe ich Ihnen getan, daß Sie auf einmal so voller Haß sind? Lassen Sie mich doch in Ruhe!«
Die Kutsche kam zum Stehen, und Xenia sprang so hastig hinaus, daß sie mit dem Knöchel umknickte und humpelnd davonlief.
Eine Woche später, sie kam gerade aus der Schule und war in Begleitung der beiden Nobokow-Töchter Darja und Lara, begegnete Terenkow ihr auf der Straße. Er grüßte sie im Vorübergehen mit übertriebener Höflichkeit und folgte ihr dann in einigem Abstand.
Xenia bemerkte es, als sie einmal stehenblieb, um sich ihr Schuhband zu richten.
Darja und Lara Nobokowa wohnten neben der Kasanschen Kathedrale. Nachdem sie sich von Xenia verabschiedet hatten, beschleunigte Terenkow seinen Schritt und holte sie wenig später ein.
»Wie ich sehe, gehst du wieder ganz normal. Du hast dir also neulich, bei deinem überstürzten Abgang, keine ernsthafte Verletzung zugezogen«, sagte er. »Das freut mich.«
Sie ging weiter und warf ihm nur einen schrägen Seitenblick zu. »Und warum laufen Sie mir heute nach? Wieder nur, um mich zu kränken?«
»Nein, ich wollte dir Abbitte leisten. Es tut mir leid, was ich dir neulich an den Kopf geworfen habe, obwohl es natürlich für fast alle deines Standes zutrifft. Du bist, so scheint es, eine Ausnahme.«
Daß er sich bei ihr so ohne alle Umschweife entschuldigte, entwaffnete sie. Ein Lächeln flog über ihr hübsches Gesicht, und Terenkow dachte: Sie ist wirklich süß. Man muß kein Opfer bringen, wenn man sie sich gefügig machen will. Es würde mir auch so Freude machen, sie zu verführen, selbst wenn sie keine Gräfin Lasarowa wäre.
Eine Kutsche fuhr langsam vorüber, und aus dem Wagenfenster winkten Xenia einige junge Leute zu. Sie biß sich auf die Lippen.
»Jetzt hat man uns zusammen gesehen. Hoffentlich tratschen die Mossolows es nicht brühwarm weiter. Wenn meine Eltern erfahren, daß ich mit einem fremden Mann auf der Straße geredet habe, werden sie genau wissen wollen, wer das war und was wir zusammen gesprochen haben.«
»Nun, dann denkst du dir eben eine Geschichte aus«, meinte er leichthin und fügte in dem gleichen nebensächlichen Ton hinzu: »Mossolow? Heißt so nicht der Kabinettchef des Hofministers?«
Sie nickte. »In der Kutsche saßen seine Enkeltöchter, wenn ich richtig gesehen habe, und die beiden Söhne von General Kuropatkin. Alexandra Mossolowa ist eine fürchterliche Klatschbase und so neugierig wie eine Katze.«
»Aber sie gehört zu deinem engeren Bekanntenkreis, ja? Und die jungen Kuropatkins auch?« forschte er.
»Ja – schon. Vorgestern waren die Mossolows zum Tee bei uns, und am Freitag findet bei den Kuropatkins, glaube ich, ein Liederabend statt, an dem Schaljapin singt. Haben Sie ihn schon einmal gehört? Er hat eine wunderbare Stimme.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Terenkow. »Ich war einmal in der Oper und habe ihn auf einer Probe zu ›Ein Leben für den Zaren‹ gehört. German – du hast ihn ja kennengelernt – hat einen Bruder, der dort Bühnenarbeiter ist. Der hat mich in den Zuschauerraum geschmuggelt.«
»Und sonst waren Sie noch nie in der Oper?« fragte sie, und Terenkow schüttelte den Köpf.
»Nein. Du vergißt, daß unsereins dafür kein Geld hat. Ganz abgesehen davon, daß mich jeder Logenschließer wegen meiner abgerissenen Kleider hinauswerfen würde.«
An diesem Mittag trug er eine Kosakenbluse und eine speckige Mütze zu einer Kniehose, die mehrfach ungeschickt geflickt war. Meist war der Stoff nur mit groben Stichen zusammengezogen worden.
Xenia sah es und empfand plötzlich Mitleid mit ihm. Er sah es an ihrem Augenausdruck und knurrte: »Hör zu, Kätzchen, ich kann alles vertragen, aber nicht, wenn mich jemand bedauert.«
»Und ich mag es nicht, wenn man mich Kätzchen nennt«, konterte sie lachend.
»Gut, dann sind wir quitt.« Er bemerkte, daß sie einen verstohlenen blick auf ihre Uhr warf. »Du mußt heim, was? Schade, ich hatte gedacht, wir könnten noch eine Weile miteinander reden. Aber vielleicht können wir uns ein anderes Mal treffen.«
Sie wußte, daß sie dazu besser nein sagen sollte, aber sie tat es nicht. Noch nie war sie einem Menschen wie diesem Grischa Terenkow begegnet. Er interessierte sie, und sie wollte mehr von ihm erfahren.
Seine Ausdrucksweise war gebildet, also stammte er vermutlich aus einer gutbürgerlichen Familie, die ihm den Besuch einer höheren Schule ermöglicht hatte. Auch hatte er ein absolut sicheres Auftreten, ohne die geringste Spur von Unterwürfigkeit.
Aber wovon lebte er? Er hatte offenbar viel Zeit, also schien er nicht zu arbeiten. Auch hatte er nie irgendeinen Beruf erwähnt.
»Also was ist?« drängte Terenkow. »Hast du morgen nachmittag Zeit?«
»Ja«, antwortete sie sehr zögernd. »Ich kann sagen, daß ich zum Französischkurs muß. Der findet immer von drei bis fünf Uhr nachmittags statt, und ich habe ihn belegt, um meine Sprachkenntnisse etwas zu verbessern. Aber natürlich kann ich die Stunden auch einmal ausfallen lassen.«
»Schön, dann treffen wir uns im Park hinter der Erlöserkirche. Ich warte beim Hauptportal, einverstanden?«
»Einverstanden.« Sie lachte ein wenig. »Aber seien Sie pünktlich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand nicht die verabredete Zeit einhält.« Sie winkte ihm verabschiedend zu und lief dann eilig davon.
Terenkow sah ihr mit glitzernden Augen nach. Er war sicher, daß er mit Xenia Lasarowa einen phantastischen Fang gemacht hatte!
Grischa Terenkow, der eigentlich Gregor Lwowitsch Lapuchin hieß, stammte aus einer angesehenen Moskauer Kaufmannsfamilie. Während seines Studiums war er mit linksextremistischen Studentengruppen in Verbindung gekommen und hatte sich ihnen mit glühender Begeisterung angeschlossen.
Er verachtete die wohlanständige Bürgerlichkeit seiner Familie, den Geschäftssinn seines Vaters, die Frömmigkeit von Mutter und Schwestern und brach sein Studium ab, um bei einer Zeitung zu arbeiten, deren Büros bereits wenige Wochen darauf von der Geheimpolizei geschlossen wurde. Einige Mitarbeiter, darunter auch Grischa, wurden verhaftet, und nur dem Einfluß seines Vaters war es zu verdanken, daß er nach ein paar Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.
Trotzdem war der Bruch mit seiner Familie nicht mehr aufzuhalten. Nach einer letzten heftigen Auseinandersetzung mit seinem Vater verließ Grischa Moskau und ging nach Minsk, wo er kurze Zeit später der neugegründeten russischen Sozialdemokratischen Partei beitrat.
Zehn Tage nach ihrer ersten Versammlung wurde die Organisation durch eine Anzahl Festnahmen auseinandergesprengt.
Dennoch bestand sie illegal weiter, und Terenkow, wie Grischa sich nunmehr nannte, wurde ein Mitglied des Zentralkomitees der Partei. Lenin, aus seiner dreijährigen Verbannung nach Sibirien zurückgekehrt, erkannte die Fähigkeiten dieses leidenschaftlichen Anhängers der sozialistischen Lehre und betraute ihn mit allerhand Sonderaufgaben, besonders agitatorischer Art, die Grischa in der Folgezeit durch halb Rußland führten.
Er organisierte Streiks und Demonstrationen und war einer der Drahtzieher bei der Ermordung des Bildungsministers Bogolepow gewesen.
Auch nachdem Lenin sich ins Ausland abgesetzt hatte, um von dort aus seine politische Arbeit fortzusetzen, blieb Grischa einer der wichtigsten Verbindungsleute für ihn in Rußland. Er lieferte Artikel und Reportagen für die ›Iskra‹, eine Zeitung, die Lenin in seinem Exil ins Leben gerufen hatte und in der entschlossen zum revolutionären Kampf in Rußland und die Abschaffung des Zarentums aufgerufen wurde.
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