Zum Verständnis lohnt daher zunächst der vergleichende Blick nach Schottland, da der Clan-Begriff in Europa zunächst in diesem Zusammenhang Bekanntheit erlangt hat. „ Clann“ bezeichnete im frühmittelalterlichen Königreich Alba ein Zusammenschluss von mindestens fünf Haushalten ( Gilfine).[23] Die Highland-Clans als sozialer Großverband werden aufgrund ihres Namens als Familienverband oder zumindest als entfernt verwandt miteinander betrachtet. Dabei müssen diese Clans im Kontext von Geschichte und Geographie betrachtet werden: Nach Ende des römischen Reiches und der Christianisierung war die Zentralgewalt in Schottland und Irland schwach, stattdessen existierten unzählige „Kleinkönigreiche“, deren Oberhäupter im Endeffekt Großgrundbesitzer waren, die sowohl landwirtschaftlich als auch kriegerisch aktiv waren.[24] Erst nach drei Generationen war ein Clan etabliert.[25] Deren Macht beruht auf den verwandtschaftlichen Beziehungen, die durch die Geographie begünstigt wurden: Die kleinen Inseln und die Täler setzten den Menschen recht enge Grenzen.[26] Daraus entwickelten sich die Clans als familiäre Herrschaftsform. Die Familie eines Oberhauptes war mit vielen Angehörigen des Clans direkt verwandt oder verschwägert. Die engen geographischen Grenzen hatten den Effekt, dass eine Identifikation der Menschen mit Vornahmen und Tätigkeit oder einem herausragenden Merkmal ausreichte („Ian, der Schmied“ o.ä.).[27] Wenn man das Tal jedoch verließ, schloss man sich mit seiner Familie lieber der Schutzmacht eines Clans an, dessen Zugehörigkeit man zur Schau tragen konnte.[28] So übernahm man meist den Namen des Clans als den eigenen.[29] Wie mächtig ein Clan wurde, hing von der Politik und dem Charisma des Oberhauptes ( Chief) ab, der gleichzeitig als Richter und Kriegsherr fungierte.[30] Die Hierarchien waren patriarchal und durch die Erbfolge, vor allem bei den großen Clans, geprägt.[31] In Kriegszeiten stellten die Chiefs das Clanaufgebot für den König(Ri).[32] Innerhalb der Clans gab es eigene Gesetze und Regeln für die einzelnen Mitglieder, die von Clan zu Clan abweichen konnten.[33] Die Clans standen im Wettbewerb zueinander und trugen, insbesondere aufgrund des begrenzten Territoriums, Streitigkeiten untereinander aus. Zerwürfnisse zwischen den Nachbarclans waren somit an der Tagesordnung. Jeder Clan befand sich selbst als den besten. Vor allem diejenigen, die in ihn hineingeboren waren, erfüllte ihre Herkunft mit Stolz – ein Relikt, dass sich die schottischen Clanangehörigen noch heute bewahrt haben.[34] So kultivieren die schottischen Clans noch immer ihre Traditionen wie Wettkämpfe, Familienzusammenkünfte und empfinden sich als eine gesellschaftliche Elite, was sich in Bildungsabschlüssen und entsprechenden Berufspositionen zeigt. Sie stellen allerdings keine Gegengesellschaft dar, sondern sind engagiert und im gesellschaftlichen Leben eingebunden.[35]
Der Begriff Clan wird im gegenwärtigen kriminologischen und polizeilichen Sinne in einem speziellen festgelegten Kontext gebraucht, der sich auf die Abstammung bezieht. Gemeinhin wird mit ihm die arabische Großfamilie assoziiert, die den verwandtschaftlichen Zusammenschluss diverser Kernfamilien bezeichnet. Prinzipiell tauchen solche Clan-Strukturen deutlich häufiger auf und sind längst nicht nur auf arabische Familienbündnisse begrenzt. Andererseits gehört jedoch nicht jede arabischstämmige Großfamilie zu einem Clan. Allerdings kann der verwandtschaftliche Kontext aus einer rein willkürlichen Zuordnung herrühren, die von Personen im Zuge der Migration selbst vorgenommen wurde, um sich selbst einem Clan zuzuordnen. Ein Clan umfasst daher häufig mehrere hunderte Mitglieder,[36] ist jedoch nichts zwangsläufig an einem einzelnen Namen festzumachen. Zudem zeigt sich durch Eheschließungen längst eine Vermischung der Namen. Prinzipiell tauchen solche Clan-Strukturen deutlich häufiger auf und sind längst nicht nur auf arabische Familienbündnisse begrenzt.[37] Eine einheitliche Definition existiert nicht, vielmehr haben die Medien den Begriff durchgesetzt. Gleichwohl benötigen die Behörden einen operativen Begriffund damit einhergehend eine operationalisierte Definition, als „notwendigen Übersetzungsvorgang“ um das Phänomen erfassen und bearbeiten zu können.[38]
Das Projekt KEEAS„Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen“ des LKA NRW hat Kriterien für einen Clan erstellt, nach denen eine Zugehörigkeit nach Namen kategorisiert werden kann. Diese Kriterien umfassen
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Die Verwandtschaft als Bedingung der Mitgliedschaft(„Familie als kriminelle Solidargemeinde“). |
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Segmentäre, hierarchisch und regelmäßig patriarchale Strukturnach Abstammung. |
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Ablehnung der geltenden Rechtsordnungin Deutschland sowie der Akteure aus Exekutive und Judikative. |
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Ideologische Legitimationdes kriminellen Handelns (Abwertung der Opfer). |
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Paralleljustizdurch eigene Autoritäten. |
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Strategische Eheschließungenmit Zwangscharakter. |
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Nach außen dokumentierter Macht- und Gewinnstreben, durch Besetzungdes öffentlichen Raumes.[39] |
Es gibt einige Gemeinsamkeiten sowie Unterschiedezwischen den schottischen und den arabischen Clansystemen. So ist beispielsweise der beschriebene Stolz, einem bestimmten Clan anzugehören, auch den hier betrachteten Familienclans gemein.[40] Der Nachweis reicht dabei bis zu einem Stammes-Urvater, wobei auch dieser, wie zuvor ausgeführt, nicht zwangsläufig in der Blutslinie übereinstimmen muss.[41] Es geht vielmehr darum, dass das mythische Narrativ, auf dem der Stolz und die Familienehre des Clans basiert, transportiert wird. Dies umso mehr, wenn es sich um eine Abstammungslinie des Propheten Mohammed handelt.[42]
„ Ethnisch abgeschottete Subkulturen“ beschreiben bereits das Kernproblem: Es geht um Personenbündnisse einer Ethnie, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abschotten und im Sinne einer Subkultur eigene Regeln und Werte leben.[43] Das Prinzip von entsprechenden Subkulturen, die eigenes Recht leben, existiert noch immer in diversen Ländern, vor allem im afrikanischen und arabischen Raum.[44] Eine solche Abschottung sieh der ehemalige UNESCO-Direktor W.H. Reuther bereits in der Bauweise der Häuser im Nahen Osten: Um die Familie zu schützen und den Zusammenhalt zu organisieren, befinden sich Häuser in einem vollständig umbauten Innenhof. Auf Fenster zur Straße wird verzichtet, das Leben spielt sich in diesen Innenhöfen ab.[45] Dies ist in Deutschland von der Bauweise nicht gegeben, allerdings findet sich immer wieder der Zusammenzug von Familien- und Verwandtschaftsmitgliedern in denselben Mehrfamilienhäusern, in derselben Straße oder zumindest in der unmittelbaren Nachbarschaft. Das KEEAS-Merkmal „ Besetzung des öffentlichen Raumes“ muss nicht als Widerspruch zu der im Orient betrachteten Lebensweise gesehen werden: Mit dem regelrecht territorialen Anspruch legen sie den Grundstein für ständige Auseinandersetzungen, sowohl mit dem Staat, aber auch untereinander. Dies stellt in Hinsicht auf die Streitkultur eine grundsätzliche Ähnlichkeit zu den schottischen Clans dar, deren Mitglieder gegenseitig immer wieder Auseinandersetzungen austrugen. Solche werden in Nordrhein-Westfalen, Bremen, Niedersachsen und Berlin immer wieder an den Orten registriert, an denen mehrere Familien in unmittelbarer Nähe wohnen oder aufeinandertreffen. Reuther beschreibt exakt solche Auseinandersetzungen bis hin zu bewaffneten Überfällen als regelrechten Sport, der im Nahen Osten Tradition durch Beduinenstämme besitzt, die dies bis weit in das 20. Jhd. hinein praktizierten.[46] Clans unterscheiden sich dabei auch untereinander durch ihre individuellen Regeln, in erster Linie aber gegenüber dem Staat, in dem sie leben, und empfinden dies als eine Art Freiheit bzw. Emanzipation.[47] Dies bezeichnen wir als Paralleljustiz. Die Verwandtschaftals Bedingung für eine Mitgliedschaft ist einerseits recht absolut, andererseits existiert durchaus die Möglichkeit des Einheiratens sowie der eigenen Zuordnung im Migrationsprozess, sofern eine entsprechende Abstammung angenommen werden kann.[48] Dieser Aspekt ähnelt der Selbst-Zuordnung schottischer Handwerker, die ihr Tal verließen und sich einem Clan anschlossen, um Schutz zu genießen.
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