Kriminologie muss als interdisziplinärere Forschungsdisziplin verstanden werden, da sie auf sämtlichen empirischen Wissenschaften basiert, die Erkenntnisse über das Zusammenleben und menschliches Verhalten bieten.[6] Solche Wissenschaften sind vor allem die Psychologie und die Soziologie. Doch gerade Kriminalitätstheorien sind auf vielen weiteren Wissenschaften aufgebaut, sie stellen medizinische, biologische oder mathematische Ansätze dar. Die Interdisziplinarität hat den Vorteil, dass komplexe Fragestellungen nach den Ursachen von Kriminalität aus diversen fachlichen Perspektiven und somit aus einem 360°-Blickwinkel untersucht werden können. Im besten Fall ergänzen sich die fachlichen Perspektiven und Untersuchungsmethoden zu einer Gesamtperspektive. In der Forschungspraxis stößt diese Idealvorstellung allerdings häufig an die Grenzen akademischer Eitelkeiten, in der die Fachdisziplinen und deren Vertreter nicht selten im Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen. Dies zeigt sich bereits an den unterschiedlichen Ansätzen von Definition und auch Aufgabenbestimmung, was die Kriminologie sein und können soll. Polizeipraktiker kritisieren zuweilen die kriminologischen Lehren im Studium, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs als zu theoretisch und praxisfern. Die Lehre vom Verbrechen darf sich nicht an unterschiedlichen Streitpunkten zu Sichtweisen über den Verbrechensbegriff oder der Lehre von Kriminalitätstheorien erschöpfen. Kriminologie muss vielmehr Schritt mit aktuellen Entwicklungen halten und kriminelle Phänomene in diesem Kontext behandeln und erläutern.[7] Entsprechend eignet sich gerade die Kriminologie, um den Komplex Clankriminalität genauer zu untersuchen und jede wissenschaftliche Perspektive einzubauen, die nötig ist, um das Phänomen besser zu verstehen und damit zu einer sachorientierten Aufklärung[8] beizutragen.
In der Gegenwart zeigt sich das Phänomen Clankriminalität regelrecht mythenbehaftet, bedrohlich und schwer „von außen“ zu behandeln. Der Beitrag der Kriminologie muss an dieser Stelle sein, ein Basisverständnis auch in kultureller Hinsicht zu schaffen und die Entwicklungen von Migration und Kriminalität umfänglich darzulegen, damit die Probleme treffend beschrieben werden und auf dieser Basis Gegenmaßnahmen, sowohl polizeilicher als auch gesellschaftlicher integrativer Art, eingeleitet oder möglicherweise auch korrigiert werden können.
Dabei darf und soll es auch zu Überschneidungen der Fachbereiche und zu fächerübergreifenden „Verzahnungen“ kommen. Beispielsweise kann auf Grundlage kriminologischer Forschung ein Prognoseinstrument geschaffen werden, das in die Kriminalistik implementiert Anwendungen durch die Beamten im Polizeialltag findet.
Zur Systematik für die Einschätzung von Clankriminalität, den Straftaten und zu überlegenden Maßnahmen geht, bieten sich unterschiedliche Analysemodellean. Dabei geht es weniger um dogmatische Vorgaben eines festgeschriebenen Modells, sondern vielmehr darum, eine für den Ermittler hilfreiche Systematikzu schaffen. Ein optionales Analysemodell kann nach dem Bestimmungsfeld und nach der strategischen oder operationalen Ausrichtung orientiert sein und sollte den Ist-Stand, eine Analyse zum Bedrohungs- und Entwicklungspotential und Ansätze für Bekämpfungsstrategien beinhalten. Solche könnten sein:
Tabelle 1: Optionales Analysemodell, Abwandlung nach Clages/Ackermann 2019, S. 18.
Analysefelder |
Strategische Analysen |
Operationale Analysen |
Straftaten |
• Phänomenologische Straftatenanalyse • Erkennen von Tatbegehungsmustern • Verteilung von Kriminalität nach Raum und Zeit • Erkennen kriminalitätsfördernder Strukturen |
• Kriminologische Einzelfallanalysen (KEA) • Kriminologische Regionalanalysen (KRA) |
Straftäter |
• Allg. Profilanalysen von Straftätern; am Phänomen orientierte Tätertypologien (z.B. Oberhaupt, Schlichter, jugendliche Intensivtäter, usw.) • Analyse von Täterverhältnis, -mobilität, Geschäfts- und Wohnsitzstrukturen |
• Analyse von Kriminellen Täterstrukturen im sozialen Gefüge (z.B. Rolle i.V.m. familiärer Position und Hierarchieebene) • Bandenbildung und Gruppendynamiken • Spezifische Profilanalysen |
Maßnahmen |
• Definition Ziel, Strategien und Taktik • Prävention und Repression • Aufgreifen von Wissensbedarfen |
• Evaluation von Einzelmaßnahmen • Prozess- und Wirkungsevaluation (z.B. der „Taktik der Nadelstiche“, einer BAO oder sonstigen Initiative) |
Mit der Feststellung, dass Gesellschaften niemals statisch, sondern im dauerhaften Wandel existieren, muss auch Kriminalität als durch gesellschaftliche Akteure begangen stets im Wandel begriffen werden. Dies zeigt sich am Beispiel Clankriminalität besonders deutlich. Entscheidend für eine effektive und stets an aktuelle Gegebenheiten angepasste Polizeiarbeit ist daher der Transfer zwischen Polizei und einer umfassenden kriminologischen Wissenschaft, die neue gesellschaftliche und kriminelle Phänomene untersucht. Dabei ist das Verhältnis zwischen Kriminologie als Wissenschaft und Kriminalistik als polizeiliche Praxis nicht ganz einfach. Nach Thomas Ohlemacher gibt es unterschiedliche Erwartungen und Anforderung im Umgang mit Wissen innerhalb von Polizei und Wissenschaft, die teilweise konträr zueinander funktionieren.[9]
Tabelle 2: Polizei und Wissenschaft nach Ohlemacher 2013[10]
Polizei |
Wissenschaft |
Ausbilden |
Erforschen/Bilden |
Komplexität reduzieren |
Komplexität erhöhen |
Homogenität |
Heterogenität |
Hierarchien einsozialisieren |
Hierarchien imitieren (?) |
Bei diesen Unterschieden sollte es jedoch nicht bleiben. Vielmehr muss es darum gehen, einmal Polizei als Institution und polizeiliches Handeln einerseits wie auch Kriminalität auf der anderen Seite wissenschaftlich zu untersuchen und diese Untersuchungen der Polizei so zur Verfügung zu stellen, dass sie wiederum Nutzen für die eigene Arbeit daraus generieren kann. Als Anspruch an die Wissenschaft bedeutet dies, die Komplexität wissenschaftlicher Ergebnisse
• |
auf notwendige, polizeirelevante Inhalte zu reduzieren, |
• |
diese der Polizei zur Verfügung zu stellen und |
• |
Übernahme und Anwendung dieses Wissens durch die Polizei zu evaluieren.[11] |
Der wissenschaftliche Transfer bedarf somit einer gleichen Sach- und Sprachebene sowie eines dauerhaften und gegenseitigen Austauschprozesses. Um Erkenntnisse aus der Kriminologie konkret für kriminelle Taten nutzen zu können, müssen ihre Ergebnisse in den jeweiligen Bezug zu den unterschiedlichen Phasen einer Tat gesetzt werden.
Tabelle 3: Tatphasen, eigene Darstellung[12]
Zeitlicher Bezug zur Tat |
Handlungsebene |
vor |
Risikoeinschätzung |
während |
Einsatz |
während/nach |
Ermittlung |
nach |
Nachbereitung/Aufarbeitung |
nach/vor |
Ergebnissicherung |
Anders zusammengefasst: Die Kriminologie beobachtet reale Phänomene (empirischer Zugang), wertet sie aus und bildet eine theoretische Basis. Die Kriminalistik lehrt daran angelehnt die praktischen Maßnahmen und die Kriminalpolitik nimmt gesellschaftliche Entwicklungen, kriminologische Forschung und kriminalistische Bedarfe auf, um die Maßnahmen stetig anzupassen. Zu den Kriminalwissenschaften zählen Juristen noch das Strafrecht als rechtlichen Umgang mit und Reaktion auf Kriminalität.[13]
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