Dorothee Fesel
Linos Instinkt
Aus dem gar nicht so kurzen Leben einer Eintagsfliege
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Inhaltsverzeichnis
Titel Dorothee Fesel Linos Instinkt Aus dem gar nicht so kurzen Leben einer Eintagsfliege Dieses ebook wurde erstellt bei
Warten
Gustav, Carla, Ludwig
Strichebündel
Anfang und Ende
Schauerregen
Ungeduld
Wo ist Ludwig?
Drei Jahre Eintagsfliege
Forellenalarm
Oben
Der große Ball
Marla
Die Liste
Der Siebenpunkt-Marienkäfer
Der Ameisenstamm
Die Seerosen-Tänzer
Forellen im Eimer
Die Anti-Instinkt-Aktion
Traumprinzen
Das gelbe Meer
Die Spinne
Das Wunder
Tanzen!
Impressum neobooks
Ich warte.
Ich liege auf dem Rücken und warte.
Ich liege auf dem Rücken am Grunde des Baches im Schlick und warte. Den ganzen Tag.
Meistens kaue ich auf einem Algenhalm herum, blöde Angewohnheit von mir. Wohl Nervosität. Meinen Blick habe ich auf die Wasseroberfläche gerichtet. Ich versuche heraus zu finden, was sich darüber befindet. Aber ich sehe nur verschwommene Farben, je nach Wetter: Weiß, grau, blau; grauweiß, blaugrau, hellblau. Sonst nichts. Keine Ahnung, was da oben, über der Wasseroberfläche, ist. Keinen blassen Schimmer. Aber ich werde es wissen, eines Tages. Eines Tages hat das Warten ein Ende. Bestimmt.
Ich bin übrigens Lino. Und um meine Situation zu erklären: Ich bin eine Eintagsfliege. Also, eigentlich noch nicht. Noch nicht ganz. Ich habe ja noch keine Flügel. Noch bin ich im sogenannten Larvenstadium. Aber vierzehnmal gehäutet habe ich mich bereits.
Wann ich eine richtige Eintagsfliege werde, so richtig mit außerhalb des Wassers herumfliegen und so, das weiß ich nicht. Würde ich natürlich gerne wissen. Weiß ich aber nicht. Weiß niemand. Kann jeden Tag passieren. Denke ich. Hoffe ich. Und deshalb verbringe ich meine Zeit damit, darauf zu warten, dass ich endlich raus aus dem Wasser komme und fliegen kann. Hier unten auf dem Grund des Baches gleicht ein Tag dem anderen. Schlafen, essen, träumen. Schlafen, essen, träumen. Ab und zu häuten wir uns. Klingt öde? Isses auch. Wovon wir Eintagsfliegen-Larven träumen? Na, von der Welt über der Wasseroberfläche. Wir kennen ja nichts davon außer hell und dunkel, außer weiß, grau, blau. Aber wir reden von nichts anderem. Wir reden jeden Tag von nichts anderem als davon, wie es sein wird da oben, wie es aussehen könnte jenseits der Wasseroberfläche und was wir machen werden, wenn wir oben sind.
Hä, Moment mal. Was ist denn jetzt los? Ähm, geht`s noch?
Da schiebt sich doch tatsächlich ein Schwarm von irgendwas in mein Blickfeld. Ich seh gar nichts mehr von der Wasseroberfläche vor lauter Gewusel!
„Hey, weg da! Ihr versperrt mir die Sicht“, rufe ich, so laut ich kann. Ich stehe auf, und verschränke demonstrativ alle sechs Ärmchen vor der Brust. Der Algenhalm fällt mir aus dem Mund. Jetzt löst sich einer aus dem Schwarm und paddelt ein Stück auf mich zu. „Mach dich locker, Kleiner“, sagt er. „Wir müssen nur kurz warten, bis die langsamen Kaulis auch hinterher gekommen sind!“
Ach, Kaulquappen. Das sieht denen ähnlich. Riesenschwarm aber keine Organisation dahinter. Ich sehe das trotzdem gar nicht ein. „Ist ja wirklich sehr kameradschaftlich von euch, aber HIER wird bestimmt nicht gewartet!“, erkläre ich der Kaulquappe sauer. Sie schaut mich an, schaut zur Wasseroberfläche, dann zieht sie verständnislos die Augenbrauen zusammen. „Was gibt`s n da oben so Spannendes zu sehen?“, fragt sie. Ich verdrehe die Augen. „Das verstehst du nicht, Kaulquappe! Ich werde mal da oben sein! Ich! Da oben, über der Wasseroberfläche! Als Fliege! Mit Flügeln und Rumfliegen und so!“, erkläre ich. „Aha“, sagt die Kaulquappe nur. „Und wann soll das sein?!“. Ich zögere. „Na, irgendwann. Weiß ich doch nicht genau. Keiner weiß das!“, verteidige ich mich und versuche, nicht unsicher zu wirken.
Die Kaulquappe schaut mich prüfend an. „Ich bin der Hubertus“, erklärt sie schließlich. „Lino“, sage ich. Hubertus räuspert sich jetzt: „Gut, Lino, ehrlich gesagt, das bringt mich hier jetzt philosophisch und kulinarisch nicht weiter. Aber wenn`s dir so wichtig ist, bitte.“ Hubertus paddelt wieder ein Stück hoch zu seinem Kaulquappenschwarm und ruft: „Okay, Leute, weiter geht`s! Schwingt die Flossen! Let`s roll!“ Der Schwarm setzt sich langsam aber sicher in Bewegung. Ich grinse zufrieden. „Na dann“, sagt Hubertus, „viel Spaß noch beim Weiterträumen!“
Ich nicke. Ja, haut ab, denke ich mir nur. Weg aus meinem Blickfeld! Ich lege mich wieder auf den Rücken, schiebe einen Algenhalm zwischen meine Kiefer und schaue zur Wasseroberfläche. Langsam aber sicher lichtet sich das dunkle Gewusel und alles ist wieder weißgraublau.
Da kommt Gustav. Ich sehe schon, er ist ziemlich aufgeregt, so zappelig wie der sich fortbewegt. Jetzt schwimmt er in Kreisen um mich herum und plappert in einer Tour vor sich hin: „Heute ist es soweit, ich spüre es im dritten Hinterleibsfaden. Heute ist der Tag welcher!“
Ich verdrehe die Augen: „Mann, Gustav, das hast du gestern schon gesagt, und vorgestern, und vorvorgestern und vorvorvorgestern…“
Gustav hält in seiner Bewegung inne und versucht, mit seinen sechs kleinen Ärmchen eine große Geste an zu deuten: „Ja, aber heute bin ich mir gaaaanz sicher!“
Das beeindruckt mich wenig. Ich erkläre ihm: „Du warst dir auch gestern schon gaaanz sicher!“ Gustav sieht mich an und verschränkt alle sechs Ärmchen vor seiner Brust: „Ach, Lino, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?!“
Hinter Gustav kichert es. Seine Schwester Carla tritt hervor. Ich habe gar nicht gesehen, dass sie auch dabei ist. „Haste gehört, dein Bruder spürt wieder was im dritten Hinterleibsfaden“, lache ich. Carla schaut hoch zur Wasseroberfläche mit ihren großen verträumten Facettenaugen. Dabei summt sie leise vor sich hin: „Que sera sera…“ Sie holt ihren Schminkspiegel heraus und checkt ihr Make up. Sie will vorbereitet sein, wenn es soweit ist. Und, wie gesagt, man weiß einfach nie, wann es soweit sein wird. Carla seufzt: Hoffentlich ist heute nicht der Tag welcher. Ich seh total verknittert aus. Was soll mein Traumprinz über der Wasseroberfläche denn sagen, wenn er mich so sieht?“ Ich verdrehe die Augen. Carlas Vorstellung vom Traumprinzen über Wasser nervt. „Meinst du nicht, dein Traumprinz könnte auch hier unter Wasser sein?“, frage ich und lege mich demonstrativ cool auf die Seite. Aber Carla schaut schon wieder zur Wasseroberfläche und summt „Whatever will be, will be…“ Ich wünschte, ich könnte Carlas Traumprinz sein. Carla ist das schönste Eintagsfliegen-Larvenmädchen, das ich bis jetzt gesehen habe. „The future`s not ours to see“, singt sie. Und jemand stimmt tief mit ein: “Que sera sera, die Zukunft kann mich ma!”
Das ist Ludwig. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, denn er hat sich mal wieder gehäutet. Bestimmt schon zum zwanzigsten Mal. Kein Wunder, dass er viel größer ist als ich. Ludwig hat aber auch eine besonders ausgeprägte Stromlinienform und drei gigantische Hinterleibsfäden. Er ist ein Prachtexemplar von einer Eintagsfliegen-Larve. Und ich bin sicher, Carla hätte ihn schon das ein oder andere Mal küssen wollen, wäre da nicht ihre romantische Vorstellung vom Traumprinzen über Wasser. „Tach, Leute. Na, alles fit?“ Mit diesen Worten lässt Ludwig sich neben mich auf den Grund des Baches fallen und jongliert mehrere kleine Steinchen zwischen seinen sechs Ärmchen hin und her, während er zur Wasseroberfläche schaut.
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