Zum ersten Mal in meinem Leben erfüllt mich eine trockene Brezel mit tiefer Dankbarkeit. Sie ist mein Henkersfrühstück am Münchner Flughafen, dann werde ich es für voraussichtlich ein Jahr mit mexikanischen Frühstücksalternativen aushalten müssen. Gut, müssen ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt. Erstens zwingt mich ja niemand dazu, mich plötzlich nach Mexiko »abzusetzen«, und zweitens kann ich mir essensmäßig weitaus größere Übel vorstellen. Bebuttert ist meine vorerst letzte Brezel nun zwar nicht mehr ganz so trocken, doch sie schmeckt immer noch fade genug, um mir den Abschied von zuhause etwas zu erleichtern.
Zeitlich gesehen befinden wir uns gerade im Januar 2017. Ich bin 24 Jahre alt und werde in geschätzt 20 Stunden erstmals mexikanischen Boden betreten. Dort werde ich an einem deutschen Kulturinstitut Deutsch als Fremdsprache unterrichten. Genauer gesagt verschlägt es mich nach San Luis Potosí – eine Stadt im gleichnamigen Bundesstaat in Zentralmexiko. Die Betonung von Potosí liegt – angedeutet durch den Akut auf dem i – übrigens auf der letzten Silbe, was mir zum Zeitpunkt der Abreise noch nicht klar ist. Von mir aus könnte man auch Pótosi oder Potósi sagen, denn noch ist die Stadt für mich ein grauer, seelenloser Fleck. In Reiseführern finden sich darüber höchstens mitleidige Dreizeiler, die ein Eisenbahnmuseum und die Nähe zu anderen, attraktiveren Städten anpreisen. Ganz geheuer ist mir das nicht. Auch über den Rest von Mexiko weiß ich im Grunde nichts, außer dass die Menschen dort sehr nett sind. Das weiß ich so genau, weil ich mal eine sehr herzliche mexikanische Studienkollegin namens Jimena hatte. Die nicht so netten Leute – so viel recherchierte ich – sollen sich zum Glück nicht auf San Luis Potosí, sondern auf andere Bundesstaaten konzentrieren.
Zwischen den Aussprachevarianten hin- und hergerissen, gebe ich beim Check-in einfach San Luis als Enddestination an. Ich sei auf keinen Flug gebucht, verunsichert mich die Dame am United-Airlines-Schalter. Als wüsste sie sie auswendig, hämmert sie meine Passdaten in ihren Computer und erkennt zum Glück noch knapp vor meiner Panikattacke, dass ich gar nicht nach St. Louis in Missouri, sondern nach Mexiko möchte.
Da ich nur die nötigsten Eckdaten von der mir bevorstehenden Zeit kenne, habe ich keine konkreten Vorstellungen oder Erwartungen. Ein paar Ängste und Hoffnungen keimten abwechselnd in den aufgeregten Nächten vor meiner Abreise auf, die ich jedoch weitgehend zu ignorieren versuchte. Doch was soll schon groß passieren? Sieht man von ein paar Horrorszenarien ab, lande ich im schlimmsten Fall in einer Einöde in der mexikanischen Bergwelt, wo ich tagein tagaus Däumchen drehen und mir aus Langeweile ein Abo fürs Eisenbahnmuseum besorgen werde. Im besten Fall hingegen liegen zwölf lebendige Monate vor mir, in denen ich mir das berühmt-berüchtigte fuego latino , das ›lateinamerikanische Feuer‹, zu eigen machen werde. In jedem Fall aber will ich versuchen, alles aufzusaugen, was meinen Blickwinkel, meinen Horizont und nicht zuletzt meine Spanischkenntnisse irgendwie erweitern könnte. ¡Olé!
So viel vorweg: Die Angst, in einer deprimierenden Einöde zu landen, war unbegründet. Obwohl ich tatsächlich von Bergen umgeben war, fühlte es sich an, als habe man plötzlich einen riesigen Felsbrocken vor meinem Geiste beiseite gerückt. Den nahm ich paradoxerweise erst wahr, als er nicht mehr da war. Plötzlich sah ich nicht nur die fremde, sondern auch meine Heimatkultur aus einer befreiend distanzierten Perspektive. Es waren gerade die kleinen, scheinbar belanglosen Aspekte des täglichen Lebens, die mich immer wieder überraschten. Wie Puzzleteile fügten sie sich nach und nach zu einem größeren Ganzen zusammen. Ich fand an diesem Spiel Gefallen und hängte an die zwölf lebendigen Monate noch einmal neun dergleichen dran. Meine Erlebnisse hielt ich über diese Zeit hinweg in einem kleinen Online-Tagebuch fest. Manche meiner Freunde sprachen auch von einem Blog, doch dafür fehlte ihm meiner Meinung nach der Glitzer. Den möchte ich nun, zum krönenden Abschluss, in Form dieses Büchleins drüberstreuen.
Wer sich fragt, was es mit dem seltsamen Titel auf sich hat, den bitte ich an dieser Stelle noch um etwas Geduld. Die Taktik, sich einfach einmal auf Dinge einzulassen, hat mir in Mexiko sehr oft sehr gut geholfen. Vielleicht funktioniert das ja auch beim Lesen. Und nur, weil etwas auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt, heißt das nicht, dass man ihn nicht irgendwann erkennt.
Thematisch will ich mit euch einmal durch meinen mexikanischen Alltag streifen: Blauäugig in Situationen hineintreten und auf hoffentlich erheiternde Weise wieder herauswachsen. Es geht um große Geschäfte und kleine Flüchtigkeitsfehler; um Bier mit Tomatensaft und Suppe auf dem Grill; um »Liebesg’schichten und Heiratssachen«; wenig um morgen, aber viel um heute; um Improvisationsgeschick und Zuversicht. Drogen, Gewalt und Korruption lasse ich dabei weitgehend aus dem Spiel. Dafür offenbarte sich mir in Mexiko zu viel Schönes, das leider oft im medialen Schatten der Kriminalität untergeht. Bis auf eine kleine Bestechungsaktion kann ich diesbezüglich außerdem nicht aus dem Nähkästchen plaudern. Dies hier ist auch kein Reisebericht, kein Verhaltensguide, keine Überhöhung oder Erniedrigung der mexikanischen Kultur. Nach zwei Jahren auf einem verschwindend kleinen Fleck in einem 1.973.000 km² großen Land mit 129 Millionen Einwohnern würde ich mir das nicht anmaßen wollen. Und überhaupt bin ich kein Freund kultureller Dos and Don’ts . Bei der einen oder anderen überzeichneten Darstellung denke man sich also bitte mein zwinkerndes Auge hinzu. An dieser Stelle möchte ich außerdem anmerken, dass zu den Mexikanern, den Österreichern und den sonstigen Europäern, von denen hier die Rede sein wird, auch jeweils die weibliche Form gehört – und alles, was dazwischenliegt. Der Einfachheit halber habe ich mich aber dafür entschieden, nur von der generischen Form abzuweichen, wenn es mir sinnvoll und relevant erschien.
Doch wer soll dieses Buch nun überhaupt lesen? Wie vor meiner Abreise habe ich auch hier nur ein vages Bild vor Augen. Im besten Fall fällt es Menschen in die Hände, die auch ohne große »Wanderung« einmal hinter ihr geistiges Gebirge spähen wollen. Oder jenen, die kurz davorstehen, sich auf ein ähnliches Abenteuer einzulassen. Menschen, die sich nicht so sehr um geschichtliche Fakten kümmern, sondern vielmehr um die kleinen Dinge des Alltags. Sehr gerne auch euch, die ihr einfach nur ein wenig Unterhaltung sucht.
Im schlechtesten Fall verblassen diese Seiten in meinem Bücherregal und werden noch staubiger als die alte Flughafenbrezel vom Januar 2017. Ich kann nur hoffen, dass sie mich nichtsdestotrotz immer wieder nach Mexiko zurückkatapultieren werden und mich mit ebenso viel Dankbarkeit erfüllen.
Innsbruck, im Dezember 2019
La Casona Comonfort - Vom Wohnen etwas fürs Leben lernen
Keine Angst, das hier ist keine IKEA-Werbung. Im Gegensatz zu vielen anderen Kapiteln meines Lebens beginnt mein Kapitel Mexiko ausnahmsweise nicht mit einem strapaziösen Besuch im schwedischen Möbelhaus. Laut meinem zukünftigen Chef erwartete mich nämlich eine voll ausgestattete Wohnung. Voll ausgestattet! In diesem Zusammenhang wurde ich mir wieder einmal des Schönen, gleichzeitig aber auch Beängstigenden an Begriffen bewusst: ihrer Dehnbarkeit. Was für meinen Chef »voll ausgestattet« bedeutete, rief bei meiner Mutter erniedrigende Kommentare wie »Du wohnst ja im Slum!« hervor. Mein anfänglicher Ärger über diese Parallele galt eigentlich mir selber, denn auch ich sah anfangs nur das Gefälle zu meinen bisherigen Wohnstandards. Mit der Zeit eröffnete sich mir jedoch eine ganz neue (Wohn-)Welt. Unter der Oberfläche von improvisierten Möbeln und zweckentfremdetem Hausrat entdeckte ich eine Mentalität, die durch ihre Genügsamkeit fast eine Art buddhistische Freiheit in sich trug: nichts zu wollen, was man nicht hat.
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