Es zeigt sich also, dass nicht alles erfasst werden kann und die Hell-Dunkelfeld-Relation von Delikt zu Delikt variiert. Auf Basis der PKS allein kann daher die Clankriminalität nicht vollständig eingeschätzt werden. Daneben liefert die PKS keinerlei Zusammenhänge zwischen Taten, Personen und Gruppen. Entsprechend bedarf es Lagebilder, um das Phänomen Clankriminalität darstellen zu können.
Info-BoxPolizeiliche Lagebildersollen einen umfassenden Überblick über komplexere Kriminalitätsphänomene geben und damit einen kriminalpolitischen Konsens über die Gefahren dieser schaffen.[8] Eine Basis ist generell auch die PKS. Allerdings sind deren Datensätze anonymisiert, auch werden keine ethnischen Zugehörigkeiten erfasst. Daher bietet die PKS nur wenig Möglichkeiten zur Auswertung von Kriminalität, die unter Clankriminalität zu subsumieren ist.[9] Stattdessen müssen für Lagebilder zur Clankriminalität standardisierte Analysemodelle genutzt werden, um eine Selektion der entsprechenden Fallinformationen vornehmen zu können.[10] Der Vorteil in den Lagebildern liegt darin, dass man die einzelnen Kriminalitätsphänomene (z.B. Rauschgifthandel, unterschiedliche Arten von Betrugsmaschen, etc.) darstellen und erläutern kann. Generell sind Lagebilder als Verschlusssache (VS-NfD) zu behandeln. Öffentliche Lagebilder beinhalten nur einen ausgewählten Teil der Informationen. |
Die ersten öffentlichen Lagebilder zum Phänomen Clankriminalität sind 2019 und 2020 herausgegeben worden. Auf sie wird unter Kapitel IInäher eingegangen. Für die Einschätzung zur Dimension von Clankriminalität sind sie eine unerlässliche Hilfe, sie bieten allerdings, wie eben auch die PKS, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.[11] Das schlägt sich auch auf die beobachtete Entwicklung nieder: Wenn sich die erfassten Zahlen in den Lagebildern der nächsten Jahre verändern, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Kriminalität zu- oder abgenommen hat. So können die durchgeführten Kontrollen zu mehr erfassten Delikten geführt haben, was nicht automatisch bedeutet, dass die Kriminalität auch real angestiegen ist. Ebenso können sich auch die notwendigen Schutzmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie auf die Clankriminalität ausgewirkt haben. Dies kann sowohl zu realen Anstiegen (z.B. im Bereich von Betrugsdelinquenz durch vermeintliche Corona-Tests oder durch Erschleichen von staatlichen Hilfeleistungen),[12] als auch in realen Abnahmen (z.B. von Rohheitsdelikten im öffentlichen Raum), aber eben auch zu schlichtweg nicht-registrierter Kriminalität durch den Wegfall der Kontrollen führen, der sich nach der statistischen Erfassung wie ein Absinken der Kriminalität liest.
[1]
BKA (Hrsg.) 2020, S. 7.
[2]
BKA (Hrsg.) 2020, S. 5.
[3]
Vgl. Kawelovski , Drucksache 16/12344 des nordrhein-westfälischen Landtags (ohne Datumangabe); Dienstbühl , Deutsche Polizei 9/2018, S. 4 ff.
[4]
Weitere sind: Ladendiebstahl, Leistungs- und Beförderungserschleichung, Menschenhandel, illegale Einreise, Korruption und Umweltkriminalität.
[5]
Vgl. Steffen , in: Wirth (Hrsg.) 2011, S. 334.
[6]
Vgl. Winter 2020, S. 13.
[7]
Die ist z.B. häufig der Fall bei intrafamiliärer Gewalt festzustellen, wenn Mitglieder dies von ihrer Kindheit an als normal erleben.
[8]
Vgl. Soiné , in: Wirth (Hrsg.) 2011, S. 363.
[9]
Vgl. LKA Niedersachsen (Hrsg.) 2020, S. 4
[10]
Ebd.
[11]
BKA (Hrsg.) 2019, S. 4.
[12]
Vgl. Dienstbühl , Sicherheitsmelder v. 22.4.2020.
I. Einführung› 4. Zusammenfassung
Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft stellt die Frage nach den Ursachen von Kriminalität und insbesondere nach dem „Warum?“, nach Tätern und Opfern und nach Möglichkeiten zur Kontrolle. Um Kriminalität im Kontext von Clankriminalität einordnen, untersuchen und ermitteln zu können, bedarf es umfassender Kenntnisse, insbesondere vier relevanter Bereiche der Kriminologie, die in diesem Buch behandelt werden sollen.
1. |
Phänomenologie: Je komplexer ein Kriminalitätsphänomen ist, desto wichtiger wird die grundlegende Fragestellung, was diese Form von Kriminalität im Gegensatz zu anderen ausmacht, wer die Akteuere sind und wie ihre Lebenswelt aussieht. Ziel ist, das Phänomen Clankriminalität in seiner Erscheinung und seinen Spezifika zu begreifen. |
2. |
Ätiologie: Die Frage, warum Kriminalität entsteht, ist eine Frage nach Ursachen und damit befasst sich die Ätiologie. In diesem Feld wird beispielsweise untersucht, wie die Migrationsgeschichte und die Familie auf das Individuum einwirken und straffälliges Verhalten fördern. Auch soll die Ursache für kriminelles Handeln aus Perspektive der Betroffenen analysiert werden (Frage der Rechtfertigung, Anlässe für kriminelles Handeln). Die Ätiologie kann, ebenso wie die nachfolgende Statistik, in die Phänomenologie implementiert werden, um ein umfassendes Bild vom Phänomen Clankriminalität zu erhalten. |
3. |
Statistik: Der dritte Bereich, der – wie zuvor dargestellt – mit einigen Einschränkungen zu bewerten ist, ist die Erfassung von Kriminalität. Trotz der Dunkelfeldproblematik sind die Kriminalstatistik und die darauf basierenden Lagebilder das Instrument, um eine Bestandsaufnahme zu generieren und das Kriminalitätsaufkommen einzuschätzen. Zudem kann sie sehr wichtige Anhaltspunkte über die Kriminalitätsentwicklungen geben, die für alle weiteren Überlegungen zur Intervention und Prävention wichtig sein können. |
4. |
Intervention und Prävention: Auf der Grundlage der bisherigen Themenpunkte, aber auch in der Beobachtung gegenwärtiger Initiativen zur Eindämmung von Clankriminalität (z.B. die anlasslosen Verbundkontrollen oder Präventionsmaßnahmen im Umgang mit jungen Intensivtätern) werden die jeweiligen Möglichkeiten und Voraussetzungen erläutert und dargestellt. |
Der Anspruch an die kriminologische Forschung basiert auf der Werturteilsfreiheit der Untersuchungen und ihren Gehalt für die Polizei und im Fall von Clankriminalität als behördenübergreifenden Problemkomplex auch auf die Verwaltungspraxis insgesamt. Das öffentliche Interesse und die zum Teil sehr hitzig und polarisierend geführten Debatten zeigen die Notwendigkeit an, Lösungen zu finden, die gesamtgesellschaftlich tragbar sind. Sie setzen dabei insbesondere Polizei und Justiz unter Erwartungsdruck, der von mitunter gegensätzlichen Interessen geprägt ist und ein Spannungsfeld zwischen dem Generalverdacht ethnischer Minderheiten und dem Generalverdacht von strukturellem Rassismus in der Polizei erzeugt, und so eine Meinungsatmosphäre in den Extremen zwischen konsequenter Verharmlosung und regelrechter Hysterie schafft. Eine wirksame Kriminalpolitik muss auch diesen Extrempositionen begegnen, um nicht zum Spielball des gesellschaftspolitischen Diskurses zu werden, der zum größten Teil von Personen ohne die notwendigen Kenntnisse bzw. mit politischem Interesse bestritten wird. Sie muss daher in der Lage sein, genau das Maß an Wissen zu vermitteln, dass es für die sachliche Auseinandersetzung braucht. Entsprechend notwendig und hilfreich ist eine wissenschaftliche Basis, um das Phänomen einschätzen und darauf aufbauend kriminalstrategische Planungen treffen und diese auch begründen zu können. Zudem bedarf es eines Wissenstransfers jenseits der populistischen oder elitären Sprache.
Читать дальше