3. Ein tragfähiges strafrechtliches Erziehungskonzept
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Angesichts der erkennbaren Defizite des Erziehungsgedankens nehmen die Einwände gegen dieses jugendstrafrechtliche Leitprinzip zu. Teils hat man sich dafür ausgesprochen, den Erziehungsansatz begrifflich präziser zu fassen, nämlich als „Sozialisation“[62]. Trotz dieses dem Erziehungsbegriff wohl ebenbürtigen und unstrittig moderneren Begriffs würde man aber letztlich nur ein Wort austauschen. Näherliegend mag es erscheinen, den Aspekt des „Wohls des Jugendlichen“, der in den „Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit“ dominiert[63], in den Vordergrund des jugendstrafrechtlichen Sonderweges zu stellen. Auch dies führt aber nicht weiter, da das Leitprinzip des „Wohls des Jugendlichen“ noch mehr als der Erziehungsgedanke die grundsätzliche Orientierung strafrechtlichen Vorgehens an den Interessen der Allgemeinheit und den daraus resultierenden Zwangscharakter verschleiert[64]. Neuestens gipfeln die Reformüberlegungen schließlich in der Forderung nach Eliminierung des Erziehungsgrundsatzes[65]. Jedoch kommt der Erziehung (oder Sozialisation) im Jugendstrafrecht nachgerade naturwüchsig substanzielle Bedeutung zu, weshalb man ganz überwiegend ein Beibehalten dieser Ausrichtungfordert[66]. Im 2. JGGÄndG vom Dezember 2007 hat sich der Gesetzgeber mit dem neuen § 2 I S. 2 JGG dieser Position angeschlossen[67].
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In Kontrast zum Präventionsanliegen des Allgemeinen Strafrechts stärkere Konturen gewinnt der Erziehungsgedanke schon daraus, dass richtig verstandene „Erziehung“ in besonderer Weise auch eine Begrenzungsfunktiongegen Repression verkörpert und als interpretationsoffener Begriff als „Türöffner“ für jugendangemessene Strategienim Strafrecht tauglich ist[68]. Unverkennbar ist gleichwohl, dass das im Wesentlichen punktuell einwirkende Strafrecht kaum Erziehung im allgemein-pädagogischen Sinn wird bewirken können. Lediglich im Rahmen von Freiheitsentziehung, welche die Wahrnehmung der erzieherischen Aufgaben seitens der Eltern verhindert, ist ein allgemeinerziehendes Mandat der Justiz unabweisbar – jedoch endet dieses mit der Volljährigkeit des Gefangenen[69]. Angesichts der Anknüpfung des Strafrechts allein an Straftaten kann es bei Erziehung im oder durch Strafrecht im Übrigen allein um die Förderung künftiger Straffreiheitgehen[70], wie neuestens § 2 I JGG hervorhebt.
Dabei erscheint eine Ausrichtung an normbezogenen Erziehungsdimensionen, nämlich an Normbestätigung, nahe liegend. Insbesondere die Forschungen zu den generalpräventiven Wirkungen des Strafrechts sprechen dafür, dass Normkonformität vor allem durch Normakzeptanz iS einer Bindung an die vor allem in der Sozialisation verinnerlichten Werte gefördert wird[71]. Als Minimalaufgabe strafrechtlichen Zugriffs auf einen Jugendlichen wird man deshalb eine spezialpräventiv wirksame Normbestätigung als Grundlage für künftige Straffreiheit anzustreben haben. Dass diese positive Spezialpräventionganz unabhängig von irgendwelchen Sozialisationsdefiziten des Täters strafrechtliche Basisaufgabe ist, ergibt sich schon daraus, dass ein Nichtreagieren trotz Überführung des verantwortungsfähigen Täters die übertretene Norm desavouieren müsste – ihm selbst wie auch der Allgemeinheit gegenüber[72]. Zu den jugendangemessenen Strategien gehört schließlich ein Ernstnehmen des Beschleunigungsgrundsatzes. Denn bei vorliegenden Erziehungsbedürfnissen schwächt jedes Zögern die Effizienzpotenziale einer Intervention. Und im Übrigen fördert lange Verfahrensdauer Rationalisierungs- und Verdrängungsneigung, was der Normbestätigungsaufgabe ahndender Sanktionierung entgegenwirkt[73]. Beschleunigung darf freilich nicht zur Vernachlässigung personenbezogener Ermittlungen führen, sondern setzt enge Kooperation der Verfahrensbeteiligten voraus[74]. Dass der Beschleunigungsgrundsatz keine Relativierung der gesetzlichen Standards des Beschuldigten- und Angeklagtenschutzes bewirken darf, versteht sich von selbst.
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Der Erziehungsgedanke thematisiert die Verantwortung der Gesellschaftfür ihre Jugend und fördert daher Rücksichtnahme auf die vielfältig sensible Phase des Jugendalters. Um dem Jugendlichen im Rahmen des Strafrechts möglichst wenig zu schaden, ist Gesetzesauslegung und -anwendung unter Zurückdrängung von formellen Sanktionen zu Gunsten informellen Reagierens (sog. Diversion; vgl unten Rn 172 ff) und insbesondere unter Vermeidung harter Sanktionen erforderlich. Bei Erziehung im Strafrecht geht es zuallererst um Rücksichtnahme auf Entwicklungsvorgänge und auf anderweitig zu leistende Erziehung. Es sind möglichst wenig schädliche Eingriffe in diejenige Erziehung vorzunehmen, die von dazu Berufeneren (Eltern, Lehrern, Ausbilder, Jugendhilfe) geleistet wird. Zudem stellt sich die Aufgabe, bislang versäumte und in weniger gut kontrollierbaren Zusammenhängen gar nicht initiierbare Lernvorgänge voranzutreiben; und angesichts des vorgegebenen Handlungsrahmens „Strafrecht“ gilt dies unabhängig von strafrechtsimmanenten Wirksamkeitshindernissen. Speziell im Jugendstrafvollzug müssen darüber hinaus die hier weitgehend ausfallenden Erziehungspersonen in ihrer pädagogischen Aufgabe ersetzt werden.
Die besonderen Anforderungen des Umgangs mit jungen Straftätern lassen sich daher am besten anhand des Leitprinzips „Verantwortung“veranschaulichen: Auf der einen Seite Verantwortung der Gesellschaft für diejenigen, die unverschuldet den Sozialisations-Risiken eben dieser Gesellschaft ausgesetzt sind, nämlich die Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden; auf der anderen Seite die Befähigung junger Menschen dazu, für ihre Taten und für ihr künftiges Leben in dieser Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.
[1]
Vgl PKS, Bd. 3, 2018, S. 27, 101. TVBZ = Verdächtige pro 100 000 der entsprechenden Wohnbevölkerung; vgl PKS, Bd. 3, 2018, S. 162 f.
[2]
Vgl Schöch/Gebauer , Ausländerkriminalität, S. 40 ff; Streng , JZ 1993, 109, 110; Heinz , ZStW 114 (2002), 519, 552 ff; ders. , in: HdbStrafrecht, Bd. 1, § 22 Rn 17.
[3]
Vgl Hermann , Werte, S. 190 f; ferner Kaiser , Kriminologie, § 37 Rn 88; Kerner , in: DVJJ, Fördern, S. 31, 41; Heinz , in: HdbFP 4, S. 1, 29 ff.
[4]
Vgl PKS, Bd. 3, 2018, S. 27.
[5]
Davon 19 245 Heranwachsende unter Anwendung Allgemeinen Strafrechts.
[6]
Vgl zum Ganzen Strafverfolgung 2017, S. 16, 24 f.
[7]
Zur TVBZ vgl oben Fn 1.
[8]
Vgl auch PKS 2012, S. 100 f; PKS 2018, Bd. 3, S. 101 ff, 105; Heinz , Kriminelle Jugendliche, S. 17 ff, 45 ff; Meier , Kriminologie, § 5 Rn 48 ff (Abb. 5.2); zur entspr. Entwicklung in Europa vgl H.-J. Albrecht , RdJB 2018, 382, 383 f.
[9]
Vgl Kaiser , Kriminologie, § 50 Rn 8 ff; Schwind , Kriminologie, § 20 Rn 3 ff.
[10]
Vgl zum Ganzen Heinz , in: FS Jesionek, S. 103 ff; ders. , Kriminelle Jugendliche, S. 32 ff, 42 ff; Walter/Neubacher , Jugendkriminalität, Rn 413, 522; Streng , Kriminalitätswahrnehmung, S. 11 ff.
[11]
Vgl Heinz , ZJJ 2017, 115, 119 ff (Schaubild 9).
[12]
Vgl Oberwittler/Köllisch , NK 4/2004, 144 ff; Boers/Walburg/Reinecke , MschrKrim 89 (2006), 63, 70 f; Pfeiffer/Wetzels , in: FS Schwind, S. 1109 ff; Eisenberg/Kölbel , Kriminologie, § 26 Rn 18 f; Neubacher , Kriminologie, 3 Rn 16; Heinz , in: HdbStrafrecht, Bd. 1, § 22 Rn 3, 25 ff; anders Killias/Kuhn/Aebi , Kriminologie, Rn 256.
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