95
Dieses (Zwischen-)Ergebnis wird gestützt durch das sinistrische Schweigen auf die Erklärung Kontrariens hin: Erklärt – wie hier Kontrarien – ein Staat einen mit Sinn und Zweck des Vertrages unvereinbaren Vorbehalt für unwirksam und betont, dass dieser die Vertragsbindung nicht beschränken könne, so ist es an dem Vorbehaltsstaat zu reagieren. Schließlich hat er den Widerspruch zwischen seiner Beitrittserklärung und dem mit Sinn und Zweck des Vertrags nicht vereinbaren Vorbehalt zu verantworten.[29] Er kann sich entscheiden, ob er den Vorbehalt zurückziehen oder modifizieren will (u. U. reicht auch eine Klarstellung) oder ob er von dem Vertrag insgesamt Abstand nehmen möchte.[30] Reagiert er nicht, so wird er nach den Grundsätzen der acquiescence so behandelt, als habe er stillschweigend in eine insoweit unbeschränkte Vertragsbindung eingewilligt.[31] Das Konsensprinzip ist insoweit gewahrt, da es Sinistrien überlassen bleibt, die seinen politischen Interessen entsprechende Reaktion zu wählen und sich somit zwischen vorbehaltloser Bindung oder aber der Nichtbindung zu entscheiden.
96
Hinweis:
Der Grundsatz der acquiescence (Nämliches gilt für die Effet-utile -Regel) braucht hier nicht näher ausgeführt und hergeleitet zu werden. Es handelt sich um einen im Kern unbestrittenen völkerrechtlichen Grundsatz, der hier nicht einen Schwerpunkt des Falles darstellt, sondern nur ein Baustein im Lösungsmosaik ist.
97
Von einer Reaktion Sinistriens auf den Einspruch Kontrariens ist im Sachverhalt nichts mitgeteilt. Vorausgesetzt, dass eine angemessene Zeit seit diesem Einspruch verstrichen ist, innerhalb derer eine Reaktion von Sinistrien hätte erwartet werden können,[32] ist Sinistrien vorbehaltlos an die Bestimmungen der Anti-Folter-Konvention gebunden. Da Vorbehalte, die gegen Ziel und Zweck des Vertrages verstoßen, nicht einwilligungsfähig sind ( Rn. 86), gilt diese insoweit vorbehaltlose Bindung nicht nur gegenüber Kontrarien, sondern gegenüber allen Vertragsstaaten. Ansonsten würde der unzulässige Vorbehalt auf dem Umweg über die bilaterale Annahme doch noch „gerettet“ und Art. 19 WVK konterkariert.
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Hinweis:
Diese Lösung (die keineswegs zwingend ist: andere Ansichten sind hier besonders gut vertretbar!) „funktioniert“ nur dort reibungslos, wo eine verbindliche Feststellung der Unzulässigkeit möglich ist (etwa durch ein Gericht oder – wie hier – in einem juristischen Gutachten). In der Praxis der Staaten untereinander ergibt sich das Problem, dass ein einzelner Staat nicht verbindlich für alle über die Unzulässigkeit befinden kann. Hier kommt man um eine Bilateralisierung kaum herum. Immerhin kann dort aber durch einen Einspruch und qualifiziertes Schweigen des „Vorbehaltsstaats“ zumindest in diesem bilateralen Verhältnis eine vorbehaltlose Bindung entstehen, was bei zulässigen Vorbehalten nach Art. 21 Abs. 3 WVK gerade nicht möglich ist.
99
Der Vorbehalt zur Anti-Folter-Konvention ist mit Ziel und Zweck des Vertrages unvereinbar und daher unwirksam. Sofern Sinistrien auf den Einspruch Kontrariens nicht durch eine Modifizierung seines Vorbehalts oder durch Abstandnehmen vom Vertrag reagieren sollte, ist es „vorbehaltlos“ an die Konvention gebunden.
D. Erklärung zum Abkommen mit Tutelien
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Auch bei der Erklärung zu dem Abkommen mit Tutelien geht es Sinistrien darum, die Rechtswirkungen des Abkommens, das bereits die Verhängung der Todesstrafe ausschließen soll, für Sinistrien zu begrenzen, indem es die Verhängung in besonderen Fällen gestattet und nur die Vollstreckung aussetzt. Während Vorbehalte in multilateralen Verträgen dazu dienen, durch differenzierte Gestaltung der Vertragsbindung in Randbereichen einen möglichst großen Kreis an Staaten zur Zeichnung und Ratifikation zu bewegen, geht es in bilateralen Verträgen um die Vereinbarung von Rechten und Pflichten zwischen zwei Parteien. Hier verfehlen Vorbehalte ihren Sinn und machen nur deutlich, dass die den Vorbehalt anmeldende Partei sich an das Vereinbarte nicht halten will. Daher stellen vorbehaltsähnliche Erklärungen zu bilateralen Verträgen in aller Regel die Nichtratifikation, verbunden mit dem Angebot zur Eröffnung neuer Verhandlungen dar.[33] Das Abkommen mit Tutelien ist daher von Sinistrien nicht wirksam ratifiziert worden.
[1]
Zu den verschiedenen Phasen des Vertragsschlusses v. Arnauld , Rn. 199 ff.
[2]
Hilpold , AVR 34 (1996), 376 (416 f, 417 ff). Kritisch auch Krajewski , § 4 Rn. 62, 70 („unangemessen“ bei Verträgen zum Schutz öffentlicher Güter). Zu dieser Unterscheidung von traités-lois und traités-contrats Simma/Hernández , in: Cannizzaro (Hg.), The Law of Treaties Beyond the Vienna Convention, 2011, 60 (66 f), sowie allgemein v. Arnauld , Rn. 194.
[3]
Álvarez , in: ICJ Rep. 1951, 15 (50 ff); ihm folgend Giegerich , ZaöRV 55 (1995), 713 (718, 743 ff).
[4]
General Comment Nr. 24 vom 2.11.1994, CCPR/C/21/Rev.1/Add.6, http://www1.umn.edu/humanrts/gencomm/hrcom24.htm, insbes. § 17. Hierzu Giegerich (Fn. 3), 766 ff; Hilpold (Fn. 2), 418 ff; Korkelia , EJIL 13 (2002), 437 (449 ff); Redgwell , ICLQ 46 (1997), 390; McCall-Smith , GYIL 54 (2012), 521. Allgemein v. Arnauld , Rn. 222; Delbrück , Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, 566 ff. Zum Thema vertiefend: Ziemele (Hg.), Reservations to Human Rights Treaties and the Vienna Convention Regime, 2004; Fournier , GoJIL 2 (2010), 437; Ando , in: FS E. Klein, 2013, 977; Pellet , in: Sheeran/Rodley (Hg.), Routledge Handbook of International Human Rights Law, 2013, 323; Ziemele/Liede , EJIL 24 (2013), 1135.
[5]
Im Falle des IPBPR waren dies nach Feststellung des Menschenrechtsausschusses am 1.11.1994 insgesamt 150 Vorbehalte von 46 der 127 Mitgliedstaaten. Von den derzeit 169 Vertragsstaaten haben 66 Vorbehalte eingelegt (Stand: August 2017).
[6]
ILC, Guide to Practice on Reservations to Treaties (2011), A/66/10/Add.1, § 75, 3.1.5. Dazu kommentierend und grundsätzlich zustimmend Walter , Dörr/Schmalenbach, Art. 19 Rn. 85 ff.
[7]
Zu dieser Unterscheidung v. Arnauld , Rn. 777 ff.
[8]
Heintschel v. Heinegg , Jura 1992, 457 (458); Hilpold (Fn. 2), 383 ff.
[9]
Zur Kollision von Universalitäts- und Integritätsinteresse v. Arnauld , Rn. 217; Lorz , Staat 41 (2002), 29 (32 ff); Verdross/Simma , § 732; Walter , Dörr/Schmalenbach, Art. 19 Rn. 2.
[10]
IGH, Gutachten v. 28.5.1951, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, ICJ Rep. 1951, 15 (21 ff).
[11]
Deutlich Martens , in: FS Rauschning, 2001, 351 (353). Näher v. Arnauld , Rn. 215, 220; Giegerich , Treaties, Multilateral, Reservations to, MPEPIL (10/2010), Rn. 3. Herdegen , § 15 Rn. 23, spricht von einem „subtil gestuften Verhältnis von Rechtsbindungen“.
[12]
Doehring , Rn. 353; Heintschel v. Heinegg (Fn. 8), 459 ff; ders. , Ipsen, § 15 Rn. 4; Herdegen , § 15 Rn. 21; Tomuschat , ZaöRV 27 (1967), 463 (464 f); Verdross/Simma , § 736.
[13]
Vgl. Human Rights Committee, a.a.O., § 19; McCall-Smith (Fn. 4). Hiervon ist die umstrittene Frage zu unterscheiden, ob ein solches Organ, sofern es wie der Menschenrechtsausschuss keine verbindlichen Beschlüsse fassen kann, über die Zulässigkeit (wird wegen der implied powers meist bejaht) und – insbesondere – die Rechtswirkungen bei Unzulässigkeit von Vorbehalten (wird überwiegend verneint) entscheiden darf. Da der Ausschuss im vorliegenden Fall nicht tätig geworden ist, kommt es auf diesen Streit nicht an. Zu diesem Streit Baratta , EJIL 11 (2000), 413 (415 f); Giegerich (Fn. 3), 758 ff; Graefrath , HuV-I 1996, 68; Korkelia (Fn. 4), 475 ff; Stahn , EuGRZ 2000, 607 (609 f).
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