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Sicherlich wird das Ziel des Vertrages, mit der menschlichen Würde den menschlichen Eigenwert zu schützen (vgl. Präambel), besser gefördert, wenn ein Staat ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten die öffentliche Pflege ihres gemeinsamen kulturellen Lebens, insbesondere die Nutzung der eigenen Sprache, ermöglicht; Art. 19 lit. c WVK verbietet einen Vorbehalt aber nicht bereits dann, wenn er zu einer weniger guten Förderung der Vertragsziele führt, sondern erst, wenn dieser mit den Vertragszielen unvereinbar ist. Ein Staat, der sich über Art. 26 IPBPR dazu verpflichtet hat, Minderheiten nicht zu diskriminieren, diesen aber keine Sonderrechte einräumen will, verletzt noch nicht gleich das Ziel, der menschlichen Würde zur Durchsetzung zu verhelfen.
Der Vorbehalt ist daher als zulässig anzusehen (a. A. gut vertretbar).
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Gemäß Art. 23 Abs. 1 WVK bedarf der Vorbehalt der Schriftform und muss den Vertragsparteien und sonstigen Völkerrechtssubjekten, die berechtigt sind, Vertragsparteien zu werden, notifiziert werden. Hiervon ist mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt auszugehen. Besondere Verfahrensvorschriften gelten für Vorbehalte bei einem Beitritt zu multilateralen Verträgen nicht. Zudem setzt Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK für den Vorbehalt schon begrifflich voraus, dass dieser beim Beitritt zum Vertrag abgegeben wird. Dies ist hier der Fall.
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Um rechtswirksam zu werden, bedarf der zulässige Vorbehalt regelmäßig der Annahme (Art. 20 WVK). Der IPBPR enthält insoweit keine abweichenden Regelungen (vgl. Art. 20 Abs. 1 bzw. Abs. 4 WVK). Man könnte erwägen, ob sich aus Ziel und Zweck des IPBPR als einem menschenrechtlichen Vertrag ergibt, dass gemäß Art. 20 Abs. 2 WVK zur Wirksamkeit des Vorbehalts die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung aller Vertragsparteien erforderlich ist. Zwar wäre es wünschenswert, wenn alle Vertragsparteien eines menschenrechtlichen Vertrags gleichermaßen in vollem Umfang an den Vertrag gebunden wären; zwingend geboten ist dies jedoch nicht. Auf die Ausführungen zur Zulässigkeit des Vorbehalts zu Art. 27 IPBPR sei hier sinngemäß verwiesen. Das früher verbreitete Integritätsdogma, wonach nur bei Einstimmigkeit Vorbehalte angenommen werden konnten, ist nach 1945 im Zuge einer Ausweitung multilateraler Vertragssysteme aufgegeben worden.[8] Im Interesse größtmöglicher Durchsetzung multilateraler Verträge erscheint es besser, einen Staat zumindest in Teilen an einen Vertrag zu binden als überhaupt nicht.[9] Dies hat in seinem Gutachten zur Völkermord-Konvention der IGH auch für menschenrechtliche Verträge betont.[10] Auch die überwältigende Staatenpraxis führt vor Augen, dass Vorbehalte hier den allgemeinen Regeln der Art. 20 ff WVK folgen – mit der Konsequenz einer weitgehenden Bilateralisierung der Vertragsbeziehungen innerhalb multilateraler Vertragswerke.[11] Dem Sachverhalt sind keine Hinweise auf etwaige Annahmeerklärungen oder Einsprüche zu entnehmen. Allerdings gilt gemäß Art. 20 Abs. 5 WVK der Vorbehalt als angenommen, wenn bis zum Ablauf von zwölf Monaten ab Notifikation (oder bis zum Zeitpunkt der Zustimmung, selbst durch den Vertrag gebunden zu sein) von einem Staat kein Einspruch erhoben worden ist. Zu den Staaten, die Einspruch angemeldet haben sollten oder noch rechtzeitig anmelden sollten (der Sachverhalt trifft insoweit keine Aussagen), würde der Vertrag dann in dem durch Art. 21 Abs. 3 WVK bestimmten Umfang gelten.
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Vorbehaltlich der Annahme nach Art. 20 WVK ist der Vorbehalt wirksam.
B. Erklärung zu Art. 26 IPBPR
I. Rechtsnatur
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Die „Protokollerklärung“ von Sinistrien bezieht sich auf die Auslegung von Art. 26 IPBPR. Es könnte sich daher um eine bloße Interpretationserklärung handeln, die zwar auslegungsleitenden, aber unverbindlichen Charakter besitzt und daher nicht den besonderen Rechtmäßigkeitsmaßstäben der WVK unterliegt.[12] Demgegenüber ist gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK eine Erklärung unerheblich von ihrer Bezeichnung als Vorbehalt anzusehen, wenn der erklärende Staat damit bezweckt, die Rechtswirkungen einzelner Bestimmungen für sich auszuschließen oder abzuändern. Die Abgrenzung kann schwer fallen, weil auch Interpretationserklärungen rechtsbegrenzende Wirkungen intendieren, indem sie eine mögliche dynamische Fortbildung des Vertrages im Wege der Interpretation behindern sollen. Dies mag insbesondere dort problematisch erscheinen, wo die Vertragsparteien ein Gremium geschaffen haben, dem die Kompetenz zur Interpretation der Vertragsbestimmungen übertragen ist.[13] Wollte man jedoch den Staaten das Recht bestreiten, sich im Wege von Interpretationserklärungen gegen denkbare Auslegungen zu verwahren, so käme dies einer Stellung als alleiniger oder vorrangiger Interpret gleich, die dem UN-Menschenrechtsausschuss nicht eingeräumt wurde. Hinzu kommt, dass nach h. M. eine solche Erklärung für den Ausschuss zwar im Regelfall beachtlich, aber nicht bindend ist. Die von Sinistrien ausgeschlossene Interpretation ist kein notwendiger, sondern nur ein möglicher Inhalt von Art. 26 IPBPR. Sinistrien möchte nur ausschließen, dass sein (zulässiger, s. o.) Vorbehalt zu Art. 27 IPBPR leerläuft, weil die Aussage dieser Norm in Art. 26 IPBPR hineingelesen wird. Dieser systematische Zusammenhang zwischen den beiden Artikeln unterstreicht, dass es sich lediglich um eine Interpretationserklärung handelt, die ohne Weiteres zulässig ist (a. A. vertretbar).
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Hinweis:
Wer hier einen Vorbehalt annimmt, müsste als nächstes die Wirksamkeitsvoraussetzungen prüfen. Hinsichtlich der Zulässigkeit des Vorbehalts ist zu beachten, dass, wenn der Ausschluss einer Bindung an Art. 27 IPBPR zulässig ist (s. o. A.), konsequenterweise auch ein Vorbehalt zulässig sein muss, mit dem eine Interpretation von Art. 26 ausgeschlossen wird, die dieser Vorschrift einen Art. 27 gleichkommenden Inhalt beilegt.
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Die „Protokollerklärung“ ist kein Vorbehalt im Sinne der WVK und somit ohne Weiteres zulässig.
C. Erklärung zur Anti-Folter-Konvention
I. Rechtsnatur
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Die Erklärung ist ausdrücklich als „Interpretationserklärung“ abgefasst. Wie bereits gesagt, ist die Bezeichnung jedoch gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK unbeachtlich für die Ermittlung der Rechtsnatur einer „vorbehaltsähnlichen“ Erklärung. Angesichts der verbindlichen Definition von „Folter“ in Art. 1 Abs. 1 der Anti-Folter-Konvention, die gerade auf amtliche Handlungen abzielt und keine Ausnahme der von Sinistrien angebrachten Art kennt, ist die Grenze zur bloßen Interpretation deutlich überschritten. Es handelt sich mithin um einen Vorbehalt.
II. Wirksamkeitsvoraussetzungen
1. Zulässigkeit des Vorbehalts
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Auch diese Konvention enthält keinen Ausschluss von Vorbehalten. Allerdings enthält sie Regelungen zu bestimmten Vorbehalten in Art. 28 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 2, die sich nur auf prozedurale, nicht auf sachliche Fragen beziehen. Dass diesen Bestimmungen e contrario entnommen werden kann, dass nur in diesen Fällen Vorbehalte zulässig sind, wie Art. 19 lit. b WVK dies vorsieht, kann nicht ohne Weiteres angenommen werden. Der Vorbehalt Sinistriens könnte jedoch mit Sinn und Zweck des Vertrags unvereinbar sein (Art. 19 lit. c WVK). Die zentralen sachlichen Gewährleistungen der Konvention finden sich in den Artikeln 1–3. Die Art. 4 ff dienen der effektiven Ahndung dieser so definierten Folterhandlungen in den Vertragsstaaten, die Art. 17 ff der Verifikation der Beachtung durch den UN-Ausschuss gegen Folter. In Art. 1 Abs. 1 werden alle amtlichen Folterhandlungen erfasst, unabhängig davon, welche Zwecke verfolgt werden; Art. 2 Abs. 2 stellt klar, dass „außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, […] nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden“ dürfen. In der Konvention geht es gerade darum, ein absolutes Folterverbot festzulegen. Die Rechtfertigungsklausel, die Sinistrien mit seinem Vorbehalt einzuführen versucht hat, ist unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrages und mithin unzulässig.
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