2. Wirksamkeit des unzulässigen Vorbehalts?
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Hinweis:
Im Folgenden ist es erforderlich, die Vorschriften der WVK zu den Vorbehalten auszulegen. Dabei finden natürlich die Regeln der WVK auf die WVK selbst keine Anwendung. Es ist daher auf anerkannte Auslegungsregeln des Völkergewohnheitsrechts zurückzugreifen, die aber denen der Art. 31 ff WVK entsprechen.
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Aus Art. 19 lit. c WVK ergibt sich allerdings lediglich, dass ein solcher Vorbehalt nicht angebracht werden darf, nicht ob dieser als unwirksam zu behandeln ist. Wie ein unzulässiger Vorbehalt rechtlich zu behandeln ist, ist umstritten.[14] Nach einer Ansicht sollen die Art. 20 ff WVK auch für unzulässige Vorbehalte gelten.[15] Diese Vorschriften differenzierten nicht zwischen unzulässigen und zulässigen Vorbehalten; auch entspreche allein diese Auslegung den Grundgedanken des Konsenses und der Souveränität, welche die Regelungen der WVK insgesamt durchzögen. Hiergegen spricht jedoch, dass bei einer solchen Interpretation Art. 19 WVK seinen Sinn verlöre. Unzulässige und zulässige Vorbehalte wären dann bereits nach der WVK exakt gleich zu behandeln. Eine solche reductio ad absurdum kann nicht überzeugen. Es ist vielmehr in den Regelungen der WVK zu Vorbehalten scharf zwischen Art. 19 und den Art. 20 ff zu trennen: Art. 19 betrifft die Frage der Zulässigkeit von Vorbehalten. Nur ein Vorbehalt, der diesen Test bestanden hat, kann nach Art. 20 WVK akzeptiert werden.[16]
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Hinweis:
Wer sich der Auffassung anschließt, dass unzulässige Vorbehalte Rechtswirkungen haben können, müsste noch auf Art. 20 und 21 WVK eingehen. Das Ob und Wie der Bindung zu den jeweiligen Vertragsparteien ergäbe sich dann aus deren Reaktion. Im Ergebnis allerdings ist die Bindung zwischen Parteien, die einen „an sich“ unzulässigen Vorbehalt annehmen oder den Einspruch hiergegen unterlassen, und solchen, die Einspruch gegen den Vorbehalt erheben, aber nicht dem Inkrafttreten des Vertrags zwischen sich und dem den Vorbehalt anbringenden Staat widersprechen, dieselbe (vgl. Art. 21 Abs. 1 und 3 WVK): Der Vertrag findet im wechselseitigen Verhältnis der Parteien zueinander nur in dem nicht vom Vorbehalt erfassten Ausmaß Anwendung.
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Damit ist freilich noch nicht gesagt, ob ein nach Art. 19 WVK unzulässiger Vorbehalt auch tatsächlich unwirksam ist. Es könnte insoweit eine Regelungslücke vorliegen, die unter Rückgriff auf das Völkergewohnheitsrecht zu schließen wäre.[17] Zwar enthält die WVK keine ausdrückliche Regelung über die Frage der Wirksamkeit unzulässiger Vorbehalte; zieht man indes den allgemeinen Auslegungsgrundsatz des effet utile heran (oder die gleichbedeutende Maxime ut res magis valeat quam pereat ), wonach eine Norm so auszulegen ist, dass ihr Regelungszweck bestmöglich erreicht werden kann, so kann die Unzulässigkeit von Vorbehalten überhaupt nur dann rechtlichen Effekt haben, wenn sie auch die Unwirksamkeit solcher Vorbehalte zur Folge hat. Es ist daher der WVK im Wege der teleologischen Interpretation die Unwirksamkeit unzulässiger Vorbehalte zu entnehmen.[18]
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Hiergegen könnte die Staatenpraxis stehen – wobei offen bleiben kann, ob als relevante Vertragspraxis entsprechend der in Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK niedergelegten gewohnheitsrechtlichen Regel oder als Element derogierenden Gewohnheitsrechts.[19] Tatsächlich finden sich insgesamt nur relativ wenige Erklärungen zu fremden Vorbehalten in Menschenrechtsverträgen, was darauf hindeuten könnte, dass man auch an sich unzulässige Vorbehalte hinzunehmen bereit ist. Doch sind die Motive für dieses Unterlassen höchst unterschiedlich; zum Teil könnten sie sogar als Ausdruck dessen gedeutet werden, dass der unzulässige Vorbehalt ohnehin als unwirksam angesehen wird, so dass es einer Reaktion nicht bedarf. Zudem existieren eben doch eine Reihe von Erklärungen, in denen Vertragsstaaten fremde Vorbehalte als mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar und daher für unwirksam erklärt haben. Beispielhaft kann auf die Einsprüche verwiesen werden, die Schweden und Finnland gegen die Vorbehalte Qatars und der USA zum Anti-Folter-Übereinkommen erhoben haben. Insgesamt ist die Praxis zu uneinheitlich, um das Maß an Übereinstimmung zu zeigen, welches für die Annahme einer einheitlichen Vertragspraxis oder von derogierendem Gewohnheitsrecht erforderlich ist.[20] Der nach Art. 19 lit. c WVK unzulässige Vorbehalt Sinistriens ist demnach unwirksam.
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Hinweis zum Gang der Argumentation:
Im vorigen Abschnitt wurde untersucht, ob sich der WVK durch Auslegung eine Regelung über die Wirksamkeit unzulässiger Vorbehalte entnehmen lässt. Hierzu wurde zunächst geprüft, ob die Art. 20 ff unmittelbare Anwendung finden, was verneint wurde. Sodann wurde auch eine Vertragslücke verneint, vielmehr durch teleologische Interpretation des Art. 19 WVK die generelle Unwirksamkeit unzulässiger Vorbehalte begründet. Dieses so gefundene Ergebnis wurde abschließend an der Staatenpraxis überprüft, die mangels Eindeutigkeit kein Argument für oder gegen die Unwirksamkeitsthese brachte.
III. Wirksamkeit des Beitritts?
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Es bleibt zu klären, welche Wirkungen die Unwirksamkeit des Vorbehalts auf den Beitritt Sinistriens zur Anti-Folter-Konvention hat. Auch hierzu enthält die WVK keine explizite Regelung. Da die Unzulässigkeit eines Vorbehaltes genauso gut zur Geltung kommt, wenn ein unzulässiger Vorbehalt zu Gunsten einer vollen Vertragsbindung entfällt, wie wenn der unzulässige Vorbehalt die Unwirksamkeit auch des Beitritts nach sich zieht, lässt sich Art. 19 WVK insoweit keine implizite Regelung entnehmen. Es liegt eine Lücke vor, die durch Rückgriff auf Völkergewohnheitsrecht zu schließen ist.[21]
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Dass der Vorbehalt von der Beitrittserklärung (bzw. der Ratifikation o.Ä.) zu trennen ist und die Unwirksamkeit des Vorbehalts die insoweit uneingeschränkte Vertragsbindung zur Folge hat, ist eine Position, die v.a. vom EGMR seit der Rechtssache Belilos vertreten wird.[22] Dieser Auffassung hat sich auch der Menschenrechtsausschuss für den IPBPR angeschlossen.[23] Die Rechtsprechung des EGMR, der gemäß Art. 33 i. V. m. 46 Abs. 1 EMRK zur verbindlichen Interpretation der Konvention ermächtigt ist, lässt sich jedoch nicht im Hinblick auf andere Vertragssysteme verallgemeinern. Insbesondere dem UN-Menschenrechtsausschuss kommt eine vergleichbare Befugnis nicht zu, weswegen mehrere Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Frankreich, gegen seine Auffassung, auch beim IPBPR ließen sich die Frage der Wirksamkeit von Vorbehalten und Beitritt bzw. Ratifikation trennen, scharf protestiert haben.[24] Zwar deuten in neuerer Zeit einige Einsprüche zu Vorbehalten – wie die bereits erwähnten schwedischen und finnischen Erklärungen – in eine andere Richtung, wonach der den unwirksamen Vorbehalt anmeldende Staat Vertragspartei bleibe, aber von der Unwirksamkeit nicht profitieren könne; diese bleiben aber zu vereinzelt, um eine Änderung der Völkerrechtslage zu bewirken.
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Ein allgemeines Trennungsprinzip stünde im Widerspruch zur Souveränität des den Vorbehalt anmeldenden Staates, der sich unter Umständen nur in dem durch den Vorbehalt abgesteckten Rahmen binden wollte. Das Trennungsmodell kann derzeit noch nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts betrachtet werden.[25] Angesichts der uneinheitlichen Staatenpraxis kann aber auch nicht eindeutig festgestellt werden, dass – jenseits des Sonderfalls der EMRK – der Status als Vertragspartei stets automatisch das Schicksal des Vorbehalts teilt.[26] Es kann auch der Wille des Staates sein, sich ungeachtet der Unwirksamkeit des Vorbehalts am Vertrag festhalten zu lassen.[27]
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In ihrem Praxisleitfaden von 2011 formuliert die ILC daher auch einen differenzierten Lösungsansatz: Danach ist von einer vorbehaltlosen Bindung des den unwirksamen Vorbehalt erklärenden Staates auszugehen, sofern nicht feststeht (ausdrücklich oder auf andere Weise), dass die Geltung des Vorbehalts conditio sine qua non seiner Ratifikation bzw. seines Beitritts war.[28] Eine ausdrückliche Erklärung in dieser Richtung hat Sinistrien nicht abgegeben. Zwar lassen die Umstände des Beitritts wie auch der schlechte Ruf des Landes vermuten, dass Sinistrien eine vorbehaltlose Bindung nicht wünschte; dies steht jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Auch im Interesse der Rechtssicherheit im völkerrechtlichen Verkehr ist daher von einer vorbehaltlosen Bindung auszugehen.
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