Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts› D. Fundierung eines individualistisch orientierten Wirtschaftsstrafrechts im Wirtschaftsverfassungsrecht
D. Fundierung eines individualistisch orientierten Wirtschaftsstrafrechts im Wirtschaftsverfassungsrecht
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Nachdem bislang zunächst das Konzept eines vertragstheoretisch orientierten Wirtschaftsstrafrechts allgemein vorgestellt wurde[500], wurden sodann die Möglichkeiten einer wechselseitigen Angleichung strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungsmechanismen abstrakt untersucht und die Bedeutung der beiden Subsystemen vorgelagerten rechtlichen Verhaltensordnung hervorgehoben[501]. Im Folgenden werden diese abstrakten Konzeptionen mit der konkreten Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland verknüpft.
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Die Ausführungen zur Wirtschaftsverfassung orientieren sich primär an der Ordnungsfunktion des Staates[502]. Das entspricht zum einen dem Ziel der gesamten Untersuchung, ein Modell für die seitens des Staates mit seinem Gewaltmonopol zu etablierende strafrechtliche Rahmenordnung für die sozialen Interaktionen bei wirtschaftlichem Handeln zu entwickeln. Zum anderen hat sich gerade die Ordnungsfunktion historisch-empirisch als Konstante und Kristallisationspunkt des Staatsbegriffs erwiesen[503], sodass damit auch die Einbindung der Gesellschaft in internationale und supranationale Organisationen berücksichtigt werden kann.
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So werden aus einer wirtschaftstheoretischen Perspektive die positiven Vorgaben und Handlungsdeterminanten für die wirtschaftliche Betätigung entwickelt[504]. Daraus sollen die Aufgabenbereiche legitimer Staatstätigkeit konkretisiert werden. Aus wirtschaftsstrafrechtlicher Perspektive geht es dann darum aufzuzeigen, wo die von der Verfassung garantierten Handlungsfreiheiten eines strafrechtlichen Schutzes bedürfen oder umgekehrt Freiräume einfordern, die eine Strafrechtsgesetzgebung begrenzen.
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts› D › I. Verfassungsrechtliche Determinanten für ökonomisches Individualhandeln
I. Verfassungsrechtliche Determinanten für ökonomisches Individualhandeln
1. Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland
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Im Unterschied zur Weimarer Verfassung[505] enthält das Grundgesetz keinen besonderen Abschnitt zur staatlichen Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Das Bundesverfassungsgericht kam daher in der sog. Investitionshilfe-Entscheidung aus dem Jahr 1954 zu der These von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“[506]. Danach schien es so, als dürfe der nationale Gesetzgeber grundsätzlich jede von ihm für sachgerecht gehaltene Wirtschaftspolitik betreiben. Die These war freilich bereits zur damaligen Zeit nicht haltbar.
a) Der normative Ausgangspunkt der Wirtschaftsverfassung und wirtschafttheoretische Implikationen (Freiburger Schule)
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Der durch das geschriebene Verfassungsrecht eingeräumte Spielraum war bei Weitem nicht so groß, wie in der Investitionshilfe-Entscheidung angenommen wurde und die Väter der Verfassung es vielleicht[507] gedacht haben mögen. Erhebliche wirtschaftspolitische Grenzen folgen schon aus der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung in den Art. 70 ff., 83 ff. GG, den aus Art. 20 Abs. 1, 3 und 28 Abs. 1 S. 1 GG zu entnehmenden Prinzipien des Rechts- und Sozialstaats sowie aus den grundrechtlichen Verpflichtungen des Staates gegenüber den Bürgern. Die Neutralität des Grundgesetzes gegenüber der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist bereits danach im Grunde eine nur begrenzte Offenheit des Grundgesetzes gegenüber der politischen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung[508].
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Die Verpflichtung der Politik auf das Sozialstaatsprinzip verbietet zunächst eine extrem liberale Wirtschaftspolitik. Die Freiheitsrechte in Art. 9, 12 und 14 GG schließen extrem zentralverwaltungswirtschaftliche Wirtschaftspolitiken aus und stimmen in wichtigen Teilen mit der Wirtschaftsverfassung der Weimarer Republik überein[509]. Da fast alle Grundrechte für das Wirtschaftsleben eine mehr oder weniger große Bedeutung erlangen, folgen aus der Verfassung damit erstaunlich konkrete Einzelvorgaben[510]. Beispiele für die Bedeutung einzelner Grundrechte sind die Menschenwürde bei Fragen der gewerberechtlichen Erlaubnis einer Peepshow, die Presse- und Rundfunkfreiheit im Medienstrafrecht oder das Recht auf Freizügigkeit bei der Verlegung eines Unternehmenssitzes.
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Auch rein tatsächlich wurde die bundesrepublikanische Wirtschaftsordnung von Beginn an maßgeblich von liberalen Ökonomen, wie Walter Eucken (1891-1950) und Alfred Müller-Armack (1901-1978), beeinflusst[511]. Unter der Führung der sog. Freiburger Schule wurde ein Konzept entwickelt, das zwischen den beiden Extremen der reinen Planwirtschaft bzw. der reinen Marktwirtschaft stehen sollte[512]. Die junge Republik sollte im Sinne einer „sozialen Marktwirtschaft“ einen „dritten Weg“ einschlagen und das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs verbinden[513]. Alfred Müller-Armack befürwortete namentlich eine Intervention zur Korrektur der Einkommensverteilung und Stabilisierung des Marktes sowie, auf längere Frist betrachtet, einen Strukturwandel hin zu „qualitativem“ Wachstum. Als Menschenbild lag dieser Wirtschaftstheorie bereits bei Walter Eucken der im ersten Kapitel beschriebene[514] homo oeconomicus zugrunde, also der Mensch, der am Eigeninteresse orientiert handelt und seine eigene Präferenzordnung aufstellt[515]. Auf diesen primär individualistisch gedachten Menschen zielt die gesamte wirtschaftliche Ordnung ab[516]. Alfred Müller-Armack bekannte dabei offen, dass seine Idee der sozialen Marktwirtschaft deutlich in der Idee der neoliberalen Marktwirtschaft wurzelt[517].
b) Die Garantie einer privat verfügbaren ökonomischen Grundlage durch Art. 14 GG und die prinzipiell symbolische Sozialisierungsklausel des Art. 15 GG
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Die in Art. 14 GG normierte Eigentumsgarantie bringt eine elementare Wertentscheidung zum Ausdruck: Eigentum ist nicht nur konkret-gegenständlich, sondern normativ abstrakt als rechtlich strukturiertes Zuordnungsverhältnis zu verstehen[518]. Im Vordergrund steht damit nicht das natürliche Verhältnis des Eigentümers zu einer Sache, sondern ein normgeprägtes und auf die Begegnung mit Dritten ausgerichtetes Individualrecht. Dazu gehören neben dem Eigentum nach Bürgerlichem Recht auch Geldleistungsverpflichtungen, individuell erworbene öffentlich-rechtliche Positionen sowie sonstige Vermögenswerte[519] oder – zumindest subsidiär – das Unternehmen in seiner Gesamtheit[520].
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Das Eigentum gewährleistet dem Einzelnen eine „privat verfügbare ökonomische Grundlage individueller Freiheit“[521] und ist damit zunächst in seinem Bestand einschließlich der Möglichkeit der wirtschaftlichen Nutzung geschützt[522]. Zugleich bleibt Raum, das Eigentum – wie in Art. 14 Abs. 2 GG gefordert – auf das Wohl der Allgemeinheit zu verpflichten. Damit ist in Art. 14 GG ein „Sozialmodell“ verwirklicht[523], in dem sich eine „Dogmatik der Kompromisse“[524] widerspiegelt[525]:
Inhalt und Schranken des Eigentums werden im Detail durch den Gesetzgeber im Sinne eines gerechten Ausgleichs zwischen den schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und den Belangen des Gemeinwohls geregelt.
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Dem Gesetzgeber sind freilich unterschiedliche Grenzen gezogen: Soweit das Eigentum die persönliche Freiheit des Einzelnen sichert, genießt es einen ausgeprägten Schutz; je stärker der soziale Bezug des Eigentums ist, umso größer ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers[526].
Ein Eigentumsrecht, das nicht nur individuelle Rechte, sondern auch wesentliche Grundlagen der Gemeinschaft gewährleistet, muss von der Gemeinschaft weitestgehend durchgesetzt, bestmöglich verteidigt und damit auch strafrechtlich abgesichert werden[527]. Gerade mit der Hilfe des Strafrechts als einem von der Gemeinschaft zur Verfügung gestelltem Schutzinstrument wird die Eigentumsordnung in der Rechtswirklichkeit wirksam etabliert. Der mit dem rechtswidrigen Angriff auf das Eigentum verbundene Eingriff in individuelle Freiheiten lässt auch die mit strafrechtlichen Sanktionen verbundenen Eingriffe in die Freiheit des Angreifers angemessen erscheinen.
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