222
Da gesetzliche Vorgaben häufig nur Handlungsspielräume vorgeben, innerhalb derer sich ein Wirtschaftssubjekt bewegen darf, können andererseits selbst die von der Rechtsordnung gewährten einzelnen Handlungsspielräume im Zusammenwirken insgesamt zu weit gehen, sodass in der Summe das Ausnutzen aller gewährten Handlungsspielräume zu einem nicht mehr tolerierten Schadensrisiko führt, das folgerichtig als rechtlich missbilligtes Verhalten eingestuft wird. Ein Beispiel für ein strafrechtlich missbilligtes Verhalten ist der Fall, in dem gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsstandards jeweils nur bis zur äußersten Grenze gewahrt würden, sodass das Endprodukt in Verbindung mit einer nur minimalen Instruktion des Verbrauchers in einer Anzahl von Fällen zu Gesundheitsschädigungen führt. Eine weitere allgemeine Grenze zulässigen Unternehmerverhaltens verläuft dort, wo der mit der staatlichen Risikoverteilung geschaffene Vertrauenstatbestand durch neue Tatsachen – z. B. neue wissenschaftliche Erkenntnisse – erschüttert wurde.
b) Speziell die Behandlung von Unternehmen
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Bei der Behandlung von Unternehmen konnte zunächst festgestellt werden, dass alle Unternehmen grundsätzlich gleich zu behandeln sind. Insbesondere ist eine generelle Sonderbehandlung von rein monistisch an den Interessen der Eigentümer (shareholder) ausgerichteten Unternehmen gegenüber einer konkreten Anspruchsgruppe (stakeholder) verpflichten Unternehmen nicht angezeigt[495]. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass durch stakeholder legitimierte Unternehmen eine besondere gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen und in diesem Sinn in besonderer Weise auf gesellschaftliche Anliegen verpflichtet sind. Eine derartige Verpflichtung auf gesellschaftliche Anliegen folgt aus einer Legitimation durch eine Bezugsgruppe nur in einer sehr eingeschränkten Weise. Auch die von einer Bezugsgruppe verfolgten Anliegen sind regelmäßig singulär auf ganz bestimmte Interessen ausgerichtet. Soweit rechtlich relevante Interessen durch die Legitimation mittels der Bezugsgruppe nicht erfasst werden oder derartige Interessen nur mittelbar gefördert bleiben, unterscheiden sich Bezugsgruppen-legitimierte Unternehmen in ihrem Marktverhalten nicht von Eigentümerinteressen-legitimierten Unternehmen.
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Bei durch Bezugsgruppen legitimierten Unternehmen wie bei durch Eigentümerinteressen legitimierten Unternehmen können Züge einer bloßen Corporate Compliance und einer darüber hinausgehenden unternehmerischen Integrität (Corporate Integrity) nachgewiesen werden[496]. Compliance bedeutet in diesem Kontext soviel wie Rechtskonformität und beschreibt einen äußeren Legalismus. Corporate Integrity verlangt eine über diesen Legalismus hinausgehende ethische Autonomie des gesellschaftlichen Subsystems Unternehmung und der dort beschäftigten Personen. Eine solche Integrität kann rentabel sein, da über eine derartige Unternehmensethik zugleich innerhalb bindender Geschäftsgrundsätze und gewährleisteter Rechte der Anteilseigner der Unternehmung (shareholder und stakeholder) ein nach außen wirksamer Unternehmenswert geschaffen wird. Greifbar wird dieser außenwirksame Unternehmenswert insbesondere in Form einer Unternehmensmarke und den daraus resultierenden Kommunikationserfolgen am Markt. Einen zunächst nach innen wirkenden Unternehmenswert schafft eine integrative Unternehmensführung durch eine korrespondierende Mitarbeitersolidarität und eine damit einhergehende Loyalität und Motivation[497]. Auch dieser Unternehmenswert wirkt schließlich über den Marktwert einer Unternehmung nach außen und steht damit zu originär außenwirksamen Unternehmenswerten in einem Komplementärverhältnis.
c) Die Bedeutung einer Übererfüllung normativer Erwartungen
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Strafrechtliche Verantwortlichkeitsstrukturen bleiben von einer über die gesetzliche vorgeschriebene Legalität hinausreichenden ethischen Integrität grundsätzlich unberührt. Sie führen also nicht dazu, dass bestehende strafrechtliche Anforderungen wegen der Integrität einer Person oder eines Unternehmens und eines damit verbundenen positiven Rufes oder einer Marke etwa noch verschärft werden würden[498]. Anderes gilt nur, wenn im Rahmen dieser unternehmerischen Integrität spezifische rechtliche Verpflichtungen eingegangen werden, die dann Anknüpfungspunkt für eine weitergehende rechtliche Verantwortlichkeit sein können.
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts› C › IV. Zusammenfassung
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Die vorstehende Untersuchung der Konvergenz strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungsmechanismen hat gezeigt, dass die Konvertibilität ökonomischer und (straf)rechtlicher Verhaltensordnung jeder hoheitlichen Entscheidung für die Zulassung freier unternehmerischer Aktivität implizit ist und damit eine der elementarsten Prämissen darstellt, die jeder Wirtschaftsordnung zugrunde liegen.
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Dieser Gedanke ist deshalb richtig, weil Strafen verstanden als Preis der Tat unter ökonomischen Blickwinkel soziale Entscheidungsregeln in Situationen des Wettbewerbs etablieren. Sie sind eine vom Gesetzgeber festgelegte bzw. für die Konkretisierung im Einzelfall der Exekutive überantwortete Zielvorgabe für die Wirtschaftsteilnehmer. Sie reduzieren die in einer Situation gegebenen komplexen Handlungsmöglichkeiten insoweit, als sie einzelne Handlungen als normativ unzulässig aus dem Kreis möglicher Entscheidungsalternativen ausscheiden.
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Die genauen Funktionszusammenhänge dieser Konvertibilität sind bislang zwar schon öfters behauptet worden, sie waren aber noch nie Gegenstand eingehender strafrechtstheoretischer Untersuchungen und wurden daher im Ausgangspunkt zunächst für individuelles Handeln dargelegt. Die Notwendigkeit von Gesetzgebung wurde als Reaktion auf tatsächliche oder unterstellte Zielkonflikte privater und öffentlicher bzw. individueller und genereller Interessen begründet. Die Gesetzgebung hat damit zur Aufgabe, ein Zielsystem zu etablieren, das als Kompromiss zwischen den beteiligten Instanzen (mit konkurrierenden Zielvorstellungen) verstanden werden kann. Die Sanktion ist das zentrale Instrument, dieses Zielsystem gerade auch beim grundsätzlich am Eigeninteresse ausgerichteten homo oeconomicus durchzusetzen. Der kalkulierende homo oeconomicus wird insbesondere die generalpräventive Wirkung der Strafe auch im Verkehr mit anderen in Rechnung stellen, sodass die Sanktion insgesamt dazu helfen kann, Transaktionskosten zu senken und neue Freiheitsräume – zum Beispiel den Warenaustausch im weitgehend anonymen Verkehr – zu schaffen. Strafe kann daher sowohl erwünschte Kooperationen stabilisieren als auch gezielt zur Destabilisierung unerwünschter Kooperationen eingesetzt werden. Die moderne Strafrechtsdogmatik stellt insoweit Mechanismen bereit, die es erlauben, Handlungsräume nicht nur abstrakt-generell, sondern auch konkret-generell und sogar konkret-individuell abzugrenzen.
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Für Unternehmen wurde herausgearbeitet, dass Unternehmen aus der Perspektive eines methodologischen Individualismus als eine Vielzahl miteinander verknüpfter linearer Verantwortungsstränge verstanden werden müssen[499]. Da dabei die Folgen der Gesamttätigkeit für den Einzelnen leicht außer Blick geraten können, geben hier die strafrechtlich sanktionierten Normen einer Unternehmung ein Sollprofil vor. Gerade in Situationen besonderer Komplexität ist hier fremdgestaltendes Eingreifen der Leitungspersonen eines Unternehmens erforderlich. Die in jüngerer Zeit entwickelten managementtechnischen Methoden ermöglichen es, die ordnungsrechtlichen Vorgaben als Grundlage für die Ausbildung eines Konzepts der „organisierten Verantwortlichkeit“ einer Unternehmung in einer komplexen Gesellschaft zu nehmen. Neuere organisationspsychologische Erkenntnisse zeigen freilich zugleich die faktischen Grenzen solcher organisatorischer Maßnahmen auf und sollten daher auch die normativen Handlungserwartungen gerade an Leitungspersonen limitieren.
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