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Nach Hassemer könnte das Wirtschaftsstrafrecht tendenziell aus dem Bereich des Strafrechts auszuscheiden und einem von ihm für die Zukunft favorisierten außerstrafrechtlichen Interventionsrecht zugeordnet werden[285]. Ob eine Flucht in ein Interventionsrecht gegenüber dem tradierten Strafrecht verstanden als Kombination von Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht tatsächlich vorzugswürdig ist, erscheint zweifelhaft. Letztlich sind es aus bürgerlich-liberaler Sicht doch gerade die rechtsstaatlichen Garantien, die das Strafrecht als Sitz der staatlichen Sanktionsgewalt so attraktiv machen, und deren Schutz auch bei der Sanktionierung von Verstößen gegen elementare individuelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Handelns eingreifen sollte.
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Zuletzt bescheinigen verschiedene Autoren dem tradierten Strafrecht angesichts der Herausforderungen einer modernen Gesellschaft zumindest gravierende Unzulänglichkeiten und kritisieren eine „Flexibilisierung der überkommenen dogmatischen Strukturen“[286] sowie „neuartige organisationsbezogene Betrachtungsweisen“[287]. Diese Kritik beinhaltet – wie schon die Kritik Roxins – positiv gewendet die Aufforderung, die rechtsstaatlichen Zurechnungsgrundsätze zu bewahren und Strafrecht nur dort einzusetzen, wo rechtlich missbilligte Gefahrschaffungen individuell zugeschrieben werden können. Das aber ist ein Anliegen, dem an dieser Stelle nur zugestimmt wird und dem auch die folgenden Ausführungen gewidmet sind.
2. Die besondere Bedeutung des Handlungsunrechts gegenüber dem Erfolgsunrecht bei der Begründung von Strafe
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Verboten kann nur sein, was prinzipiell verbietbar ist. Verbietbar ist nur, was einer normativen Steuerung zugänglich ist, also nur eine menschliche Verhaltensweise[288]. Der rein tatsächliche Eintritt des Erfolges scheidet dagegen als Verbot per se aus[289]. Das traditionelle Strafrecht scheint an diesem Punkt inkonsistent, hängt die Strafbarkeit doch beim dominierenden vorsätzlichen Erfolgsdelikt – soweit nicht bereits der bloße Versuch strafbar ist – gerade vom Eintritt des Erfolges ab[290]. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um eine scheinbare Inkonsistenz.
Gerade der Erfolgseintritt dokumentiert das Gewicht des Normverstoßes und fordert damit den Einsatz des Strafrechts in besonderem Maße heraus[291]. Bereits Hans Welzel hat pragmatisch den Erfolg als den äußeren Umstand qualifiziert, der die Behörden in der Rechtswirklichkeit zum Einschreiten veranlasst[292]. Welzel hat außerdem darauf hingewiesen, dass der Erfolg einen intensiveren Deliktswillen oder eine besondere Sorgfaltswidrigkeit indiziert[293].
Auf tiefere Wurzeln deutet möglicherweise der Verweis auf dem Strafrecht eigene atavistische Momente der Vergeltung – Vergeltung für das in der Gestalt des tatbestandlich umschriebenen Erfolgs eingetretene Übel[294]. Das Übel – und also der Erfolg – würde damit gar zur Voraussetzung von Strafrecht. Weniger dramatisch könnte der schlichte Hinweis darauf klingen, die Gesellschaft hätte sich seit Macchiavelli [295] daran gewöhnt, Handlungen nicht als solche, sondern nach ihren Konsequenzen zu beurteilen. Begründen lässt sich eine solch konsequentialistische Betrachtung der Straftat über den bloßen Verweis auf Gewohnheiten hinaus aus dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit. Der grundlegende Gedanke der allgemeinen Handlungsfreiheit in einer aufgeklärten Gesellschaft erlaubt grundsätzlich riskante Handlungen, wenn und solange daraus kein Schaden entsteht[296]. Nur riskantes Verhalten ist ein Verhalten, dem die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts anhaftet, ohne dass sich das Schadenspotential zu einer Gefahr spezifiziert hat. In diesem Fall kann damit noch nicht prognostiziert werden, dass es bei ungehindertem Verlauf mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden kommen wird, sodass es in der Regel an einer Grundlage für ein Verbot eines solchen Verhaltens und für Maßnahmen zur Gefahrenabwehr fehlt[297].
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Nur riskantes Verhalten an sich kann im Einzelfall zwar eine Abweichung vom normativ erwünschten Verhalten – z. B. ein Verstoß gegen Vorsorgepflichten – und eine Regelübertretung sein; es ist aber grundsätzlich noch kein strafwürdiger Abfall von elementaren Rechtsgeboten. Das „nur riskante“ Verhalten ist demnach ein Fall, in dem die Rechtsordnung aufgrund „mangelnden Interesses“ grundsätzlich nicht intervenieren will[298]. Die besondere Bedeutung des Erfolgs – und normativ des Erfolgsunrechts – ist damit nicht nur gewohnheitsrechtlich-atavistisch oder prozessual abgesichert, sie ist material fundiert.
Die Schwere des Pflichtverstoßes, der besondere Deliktswille oder die besonderen Vergeltungsbedürfnisse aufgrund des Erfolgseintritts werden dadurch nicht als Konsequenzen einer auf sonstigen Prämissen beruhenden Dogmatik[299] desavouiert. Sie finden vielmehr Eingang in die Bewertung der Strafwürdigkeit des Versuchs, bilden dort aber nur einige der maßgebenden Faktoren.
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Zusammengefasst gilt also:Die traditionelle Aufgabe des Strafrechts als hoheitliches (Teil)Instrumentarium zur Aufarbeitung von Konflikten setzt den Verletzungserfolg als Auslöser für den zu bewältigenden Konflikt regelmäßig voraus, wenn nicht ausnahmsweise bereits die typisierbare und hinreichend konkretisierte Gefahr einer Rechtsverletzung ein strafrechtliches Rechtsverhältnis zwischen dem Handelnden, der Gemeinschaft und dem Gefährdeten entstehen lässt[300].
3. Die Steuerungsfunktion des Tatbestandes
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Auf welche Weise welchen Interessen straf- bzw. sanktionenrechtlicher Schutz gewährleistet werden soll, entscheidet sich zunächst durch die Festlegungen im Straftatbestand[301]. Dazu hat die Rechtswissenschaft ein differenziertes Instrumentarium ausgearbeitet, das sich grob in Erfolgs- bzw. Verletzungsdelikte einerseits und Gefährdungsdelikte andererseits unterscheiden lässt und einen wesentlichen Teil der Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht widerspiegelt[302].
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Dementsprechend drücken vorsätzliche Verletzungs-, Fahrlässigkeits- oder Gefährdungstatbestände unterschiedliche Verhaltenserwartungen aus: Der Normadressat darf sein Verhalten im ersten Fall nur nicht final, wissentlich oder billigend auf den Eintritt des Erfolges einrichten. Im zweiten Fall darf der Erfolg nicht einmal durch objektiv unvorsichtiges Verhalten herbeigeführt werden. Zuletzt wird bereits die bloße Gefahrschaffung als Abfall vom Recht qualifiziert. Eine erste Konkretisierung erfahren die Verhaltenserwartungen im Rahmen des Tatbestandes und weitergehend des Unrechts. Auf der Ebene der Schuld und Strafzumessung werden ergänzend die Defizite in der Person des Täters in den Blick genommen, um letztendlich ein die Sanktion begründendes Gesamturteil über das tatsächliche Geschehen bilden zu können[303].
Diese Deliktsgruppen nachfolgend in allen Einzelheiten darzustellen, ist an dieser Stelle nicht möglich, sodass nur die Grundstrukturen dieser Deliktskategorien in ihrer spezifisch steuerungsdogmatischen Funktion erörtert werden. Bei Fragen der Schuld, des Irrtums oder der Strafzumessung stehen dagegen spezifisch steuerungsdogmatische Erwägungen üblicherweise eher im Hintergrund, sodass sie an dieser Stelle unbehandelt bleiben.
a) Analyse der Steuerungsmechanismen des Verletzungsdelikts
aa) Verletzungsdelikte als Verbote jeglicher zurechenbarer Rechtsgutsverletzung
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Den Prototyp des Straftatbestandes bildet das sog. Erfolgs- bzw. Verletzungsdelikt[304]. Verletzungsdelikte sind Tatbestände, bei denen der Erfolg typischerweise in einer von der Täterhandlung räumlich und zeitlich getrennten Verletzungswirkung besteht. Geschützt sind grundsätzlich konkrete Individualinteressen, wie Leib und Leben Einzelner, Eigentum und Vermögen, die Fortbewegungsfreiheit oder der Ehranspruch einer Person. Es können aber auch Gemeinschaftsinteressen geschützt werden, wie etwa bei der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB)[305]. Sanktioniert der Gesetzgeber den Eintritt einer solchen Verletzung mit Strafe, wird jedes Verhalten unter Strafe gestellt, das diesen Verletzungserfolg in zurechenbarer Weise bewirkt. Bestraft wird, weil ein (straf)rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen wurde und sich dieses Risiko in der tatsächlichen Gutsverletzung realisiert hat[306]. Verboten sind damit alle Handlungen, denen ein bestimmtes Risiko der Erfolgsverursachung innewohnt. Jedermann muss demnach bei allen seinen Tätigkeiten Sorge tragen, dass diese Erfolge nicht herbeigeführt werden.
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