161
Exkurs:
Art. 36 AEUV ermöglicht die Rechtfertigung von gemäß Art. 34, 35 AEUV grundsätzlich verbotenen Maßnahmen. Zwar bezieht sich der Wortlaut lediglich auf (Ein-, Aus- und Durchfuhr-) Beschränkungen, die Vorschrift ist allerdings ebenso anwendbar auf Maßnahmen gleicher Wirkung, die unterschiedlich, d.h. offen diskriminierend, oder unterschiedslos anwendbar sein können.[25]
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Rechtfertigung durch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nach der Cassis de Dijon -Rechtsprechung des Gerichtshofs, die sich grundsätzlich auf unterschiedslose Maßnahmen mit beschränkender Wirkung bezieht. Derartige Maßnahmen müssen hingenommen werden, soweit diese notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses gerecht zu werden. Allerdings können ebenfalls versteckt diskriminierend wirkende Maßnahmen durch „zwingende Erfordernisse“ gerechtfertigt werden, da diese ebenfalls unterschiedslos anwendbar sind.[26]
Offene Diskriminierungen sind dieser Rechtfertigungsmöglichkeit dagegen grundsätzlich entzogen, sodass lediglich die Rechtfertigungsgründe gemäß Art. 36 AEUV anwendbar bleiben. Auch wenn diesbezüglich die Entscheidung des Gerichtshofs in PreussenElektra eine Ausnahme darzustellen scheint, bestätigt ein Blick in die Entscheidungsgründe diese Annahme letztlich nicht. Der Gerichtshof führte in PreussenElektra den Umweltschutz nicht als ungeschriebenes zwingendes Erfordernis i.S.d. Cassis de Dijon -Formel an, sondern legte dar, dass die vorgenommene umweltschützende Politik zugleich den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen bezwecke.[27] Damit bleibt es im Ergebnis bei der Rechtfertigung über die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gemäß Art. 36 AEUV.
1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe
162
Möglicherweise sind in Bezug auf das NZG-Verwendungsverbot geschriebene Rechtfertigungsgründe gemäß Art. 36 S. 1 AEUV einschlägig.
a) Öffentliche Sicherheit
163
Das Verbot könnte unter Berufung auf die öffentliche Sicherheit gerechtfertigt sein. Unter dem Begriff der öffentlichen Sicherheit, der unionsrechtlich-autonom auszulegen ist, ist die innere und äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates zu verstehen. Der Gerichtshof erachtet lediglich fundamentale gesellschaftliche Interessen als Belange der öffentlichen Sicherheit.[28] Dabei bezieht sich der unionsrechtliche Begriff der öffentlichen Sicherheit nicht auf die öffentliche Sicherheit als polizei- und sicherheitsrechtliches Schutzgut.[29] Vielmehr ist auf die allgemeine Sicherheitssituation in einem Mitgliedstaat abzustellen.[30]
Die Verwendung von NZGs hat – auch aufgrund ihres beschränkten Verwendungsbereichs vornehmlich im Jagdwesen – grundsätzlich keinen Einfluss auf die allgemeine Sicherheitslage in B. Die Nicht-Verwendung von NZGs bei der Jagd kann demnach nicht als ein fundamentales Interesse der Gesellschaft betrachtet werden. Folglich kann das NZG-Verwendungsverbot nicht mit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden.
164
Hinweis:
Art. 346 AEUV und Art. 347 AEUV normieren im Verhältnis zu Art. 36 AEUV spezielle Rechtfertigungsgründe für zwei politisch besonders sensible Bereiche. Während Art. 346 AEUV die nationalen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates betrifft, adressiert Art. 347 AEUV den Notstandsvorbehalt in Kriegsfällen und in sonstigen Fragen der internationalen Sicherheit.
b) Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren
165
Das NZG-Verwendungsverbot könnte aufgrund des Schutzes des Lebens von Tieren gerechtfertigt sein. Hierunter fallen vor allem veterinärpolizeiliche, gesundheitspolizeiliche und sicherheitstechnische Regelungen im Zusammenhang mit Tieren.[31] Darüber hinaus umfasst dieser Rechtfertigungsgrund alle Maßnahmen, die das Wohl von Tieren fördern.[32]
166
Hinweis:
Als objektiv-rechtliches Prinzip ist der Tierschutz auch in der Querschnittsklausel Art. 13 AEUV niedergelegt, nach der sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten das Wohlergehen von Tieren bei der Durchführung ihrer Kompetenzen berücksichtigen müssen. Tierschützende Maßnahmen können daher durchaus beschränkend auf die Ausübung der Warenverkehrsfreiheit wirken, was durch Art. 36 AEUV zum Ausdruck kommt.[33]
Vor dem Hintergrund, dass beim nächtlichen Jagen mit NZGs ein tierschutzgerechtes Töten des Wildes nicht gewährleistet werden kann, fördert das Verwendungsverbot von NZGs zwar nicht unmittelbar das Wohl von Schwarzwild, verhindert allerdings potentielles Leid des Wilds, das etwa infolge von Streifschüssen bei Dunkelheit entstehen kann. Auch schließt das Verwendungsverbot von NZGs eine Intensivierung der Nachtjagd aus, die sich störend auf die Ruhebedürftigkeit bzw. den Lebensrhythmus der Tiere auswirken würde.
Das Verwendungsverbot gemäß § 19 BJagdG fällt damit unter den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes von Tieren gemäß Art. 36 S. 1 AEUV.
2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe i.S.d. Cassis de Dijon -Formel
167
Darüber hinaus könnte § 19 BJagdG ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen dienen, die der Gerichtshof als zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls im Rahmen seiner Cassis de Dijon -Rechtsprechung entwickelt hat.[34] Hier kommt insbesondere das Ziel des Umweltschutzes in Betracht.
Der Umweltschutz ist aufgrund der Art. 11, 191 AEUV als ein legitimes Ziel im Unionsrecht verankert. Das NZG-Verwendungsverbot verhindert nächtliche Schwarzwildjagden, die zu einer Zunahme nächtlicher Wildwanderungen und damit zu vermehrten Wild- und Flurschäden führen würden. Folglich fällt das NZG-Verwendungsverbot ebenfalls unter den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des Umweltschutzes.
168
Hinweis:
Weitere Rechtfertigungsgründe i.S.d. Cassis de Dijon -Formel sind der Verbraucherschutz und die Lauterkeit des Handelsverkehrs, der Schutz der Systeme sozialer Sicherheit, die wirksame steuerliche Kontrolle (Kohärenz des Steuersystems) oder kulturelle Zwecke, insbesondere die Medienvielfalt.[35] Für ein zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls kommt es allgemein darauf an, dass ein Belang in der Unionsrechtsordnung rechtlich Anerkennung gefunden hat, z.B. im Rahmen der Unionsgrundrechte o.ä.
169
Das NZG-Verwendungsverbot müsste hinsichtlich seiner legitimen Ziele verhältnismäßig sein.
170
Das Verwendungsverbot müsste geeignet sein. Dies ist der Fall, wenn es tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Ausreichend ist, dass das zu erreichende Ziel gefördert wird.[36] Ein Verwendungsverbot von NZGs verhindert ausgedehntes nächtliches Jagen und kommt damit sowohl der Ruhebedürftigkeit der Tiere als auch des Ökosystems „Wald“ zugute. Es wird dem Anliegen grundsätzlich gerecht, die Tiergesundheit und auch die Umwelt zu schützen. Es ist damit geeignet.
171
Hinweis:
Mit dem Kohärenzerfordernis hat der Gerichtshof die Prüfungsdichte der Geeignetheit erhöht und wendet dieses Kriterium vor allem in Fällen zur mitgliedstaatlichen Regulierung des Glückspielsektors an (siehe dazu eingehend Fall 6, Rn. 420). Ein Kohärenzverstoß ist insbesondere dann anzunehmen, wenn eine Maßnahme ihr Ziel nicht hinreichend konsequent verfolgt.[37] Der Gerichtshof überprüft dabei, ob bzw. inwiefern die mitgliedstaatliche Maßnahme an Selbstwidersprüchlichkeit leidet oder das angeblich verfolgte Ziel nur „vorgeschoben“ ist; teils hinterfragt er gar die Sinnhaftigkeit der Maßnahme.[38]
Читать дальше