136
Das Vorverfahren wurde ordnungsgemäß durchgeführt.
137
Die Klageschrift müsste die Formanforderungen gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 2 EuGH-Satzung i.V.m. Art. 120 EuGH-VerfO erfüllen. Von der Erfüllung der erforderlichen Formvorgaben durch die Kommission ist auszugehen.
Bezüglich der Fristanforderung folgt aus Art. 258 Abs. 2 AEUV, dass die Kommission den Gerichtshof erst anrufen kann, wenn die Frist zur Beseitigung des Verstoßes abgelaufen ist. Die zweimonatige Frist begann mit Zugang bei der Regierung von B am 27.4.2017 und endete 27.6.2017. Somit konnte die Kommission am 14.7.2017 Klage erheben.
VI. Rechtsschutzbedürfnis
138
In Anbetracht der Aufhebung des § 19 BJagdG vor Klageerhebung ist allerdings möglicherweise das Rechtsschutzbedürfnis entfallen.[5] Der Wortlaut des Art. 260 Abs. 1 AEUV lässt jedoch erkennen, dass auch Erledigungskonstellationen mit dem Vertragsverletzungsverfahren verfolgt werden können. So verlangt die Vorschrift nicht, dass der Mitgliedstaat aktuell noch gegen Unionsrecht „verstößt“, sondern lässt einen bereits vergangenen Unionsrechtsverstoß durch einen Mitgliedstaat ausreichen – zumal der Gerichtshof lediglich ein Feststellungsurteil fällt. Hinzu kommt, dass das Vertragsverletzungsverfahren als objektives Beanstandungsverfahren kein subjektives Interesse der Kommission an der Feststellung eines Vertragsverstoßes verlangt, sondern vielmehr objektiv ansetzt.[6]
Mit der Aufhebung des § 19 BJagdG nach Ablauf der im Rahmen der Stellungnahme erfolgten Frist ist der mögliche Vertragsverstoß zwar ausgeräumt. Allerdings besteht auch weiterhin ein allgemeines Bedürfnis daran, die Unionsrechtswidrigkeit der Vorschrift festzustellen.
139
Hinweis:
Dagegen würde es an dem erforderlichen (objektiven) Rechtsschutzbedürfnis fehlen, sofern der Vertragsverstoß vor Ablauf der mit der Stellungnahme gesetzten Frist entfällt.[7]
140
Hinweis:
Darüber hinaus könnte man diskutieren, ob die hier vorliegende Erledigungskonstellation eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses bedarf. In einem wie dem vorliegend gelagerten Fall bejahte der Gerichtshof das Bestehen eines „ausreichenden Rechtsschutzinteresses“.[8] In seiner Folgerechtsprechung etablierte der Gerichtshof die Voraussetzung eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses.[9] Er legte für das besondere Rechtsschutzbedürfnis Fallgruppen fest (z.B. Wiederholungsgefahr des Verstoßes oder die besondere Bedeutung der dem Verfahren zu Grunde liegenden Rechtsfrage für die Union). Allerdings ist der Gerichtshof vom Erfordernis des besonderen Rechtsschutzbedürfnisses wieder abgerückt und lässt mittlerweile ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis genügen.[10]
141
Das Vertragsverletzungsverfahren ist zulässig.
B. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
142
Das Vertragsverletzungsverfahren ist begründet, soweit die B vorgeworfene Maßnahme objektiv gegen eine im Vorverfahren als verletzt gerügte Vorschrift des Unionsrechts verstößt. Das Verwendungsverbot gemäß § 19 BJagdG könnte gegen Art. 34 AEUV verstoßen.
I. Anwendbarkeit von Art. 34 AEUV
1. Keine unionale lex specialis
143
Spezielles, abschließend regelndes Sekundärrecht in Bezug auf die Verwendung von NZGs existiert nicht.
144
Hinweis:
Soweit ein Regelungsbereich durch das unionsrechtliche Sekundärrecht abschließend harmonisiert worden ist, erfolgt die Prüfung eines etwaigen Verstoßes einzig am Sekundärrecht, sodass es keines Rückgriffs auf die Grundfreiheiten als Teil des Primärrechts mehr bedarf. Das Sekundärrecht ist aber gegebenenfalls selbst auf die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht zu überprüfen.
145
Exkurs:
Die Grundfreiheiten bewirken als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote eine sogenannte „negative Integration“, während das Sekundärrecht aufgrund seiner harmonisierenden Wirkung zur „positiven Integration“ beiträgt.[11] Diese Differenzierung erklärt auch den oben geprüften Anwendungsvorrang des Sekundärrechts vor dem Primärrecht.
2. Sachlicher Anwendungsbereich von Art. 34 AEUV
146
NZGs müssten Waren i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV sein. Waren sind körperliche Gegenstände, die einen Geldwert haben und Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Dabei kommt es allerdings grundsätzlich weniger auf die Körperlichkeit als auf die Handelbarkeit im Verkehr an. Angesichts des vorliegenden NZG-Erwerbs durch J über einen Online-Händler sind NZGs unstrittig als Waren i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV einzustufen.
3. Grenzüberschreitender Bezug der eingeführten Ware
147
In Anbetracht des Wortlauts von Art. 34 AEUV („alle Maßnahmen (…) zwischen den Mitgliedstaaten“) müsste ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.
Vorliegend kauft J über einen Online-Händler ein NZG aus dem EU-Mitgliedstaat A, um dieses in seinem Herkunftsland, dem EU-Mitgliedstaat B, zu verwenden. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist damit gegeben.
148
Der Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV ist eröffnet.
149
Es müsste ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit i.S.v. Art. 34 AEUV vorliegen. Dies ist der Fall, wenn es sich bei dem Verwendungsverbot gemäß § 19 BJagdG um eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder um eine Maßnahme gleicher Wirkung seitens eines Verpflichtungsadressaten handelt.
1. Maßnahme eines Verpflichtungsadressaten
150
Bei § 19 BJagdG müsste es sich um eine Maßnahme eines Verpflichtungsadressaten handeln. Die Grundfreiheiten richten sich unmittelbar an die Mitgliedstaaten, die Unionsorgane selbst und teilweise auch an Private. Als boarisches Gesetz ist § 19 BJagdG eine Maßnahme des EU-Mitgliedstaats B und damit eine Maßnahme eines Verpflichtungsadressaten.
2. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung i.S.v. Art. 34 AEUV
151
Eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung liegt vor, wenn die Einfuhr einer Ware ganz oder auch teilweise der Menge nach beschränkt wird. Das Verbot des § 19 BJagdG bezieht sich allerdings auf die Verwendung von NZGs auf Schusswaffen bei der Jagd, nicht auf deren zahlenmäßige Einfuhr. Somit wird die Einfuhr von NZGs nicht mengenmäßig beschränkt.
152
Hinweis:
Von einer mengenmäßigen Einfuhrbeschränkung wird etwa dann ausgegangen, wenn bestimmte Kontingente für die Einfuhr von Produkten festgelegt oder Durchfuhrverbote für eine Ware erlassen werden. Keine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung, sondern eine Maßnahme gleicher Wirkung stellen dagegen bestimmte Beschaffenheitsvoraussetzungen dar, die ein Mitgliedstaat für ausländische (wie auch inländische) Waren erlässt.
3. Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV
153
Fraglich ist, ob § 19 BJagdG eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung darstellt.
154
Hinweis:
Die Prüfung von Maßnahmen gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV erfolgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich dahingehend, ob eine Diskriminierung oder eine Beschränkung (i.S.d. Dassonville -Formel) vorliegt. Die Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 34 AEUV durch die Dassonville -Formel hat der Gerichtshof durch die Keck -Formel als mögliche Tatbestandsausnahme wieder eingeengt. Mittlerweile hat sich der Gerichtshof von der Prüfung der Keck -Formel gelöst und führt eine sogenannte Dreistufenprüfung durch. Danach prüft der Gerichtshof das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV anhand von drei Fallgruppen:[12] (1) Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, (2) Missachtung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung (Vorliegen von produktbezogenen, unterschiedslos anwendbaren Vorschriften, nach denen Produkte bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen, selbst wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind; produktbezogenes Beschränkungsverbot), (3) Marktzugangshindernis. Das Kriterium der Marktzugangsbehinderung ist damit eindeutig zum Leitprinzip der Eingriffsprüfung i.R.d. Art. 34 AEUV geworden. Darüber hinaus scheint die Dreistufenprüfung auch die Dassonville -Formel entbehrlich zu machen.[13]
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